Warum ein Übermaß an Kontrolle die Gesellschaft gefährdet, erklärt Schriftstellerin Juli Zeh: ein Gespräch über neue Projekte und Gedanken
Pause im Studio: Die Schriftstellerin Juli Zeh hat Zeit zu telefonieren. Was eine Autorin im Tonstudio verloren hat, wieso sie Kontrolle abgeben mag, aber nicht kontrolliert werden – darüber sprach sie mit Britta Heidemann.
Sie nehmen mit der Band Slut ihr Buch „Corpus Delicti” auf – wie muss man sich das vorstellen?
Zeh: Dieses Literaturprojekt ist ein neues Format. Zum Teil gibt es neu geschriebene Passagen, Musikkompositionen auf der Grundlage der Texte – und dann schaffen wir Sequenzen, in denen Text und Musik ineinander übergehen. Jetzt produzieren wir gerade im Studio die CD, im Herbst wird es eine Tour geben. Das ist aus einem gemeinsamen Auftritt in Leipzig entstanden.
Mutig, als Autorin so seinen Text abzugeben . . .
Vollkommen abzugeben, ja. Der Text ist ein Tonklumpen, den sieben Leute kneten.
Was für ein Gefühl ist das?
Richtig beglückend. Das ist so, als wären wir alle ans selbe Gehirn angeschlossen. Ich habe die Jahre davor isoliert und introvertiert gearbeitet, meine Texte nie jemandem gezeigt – das ist ein Befreiungsschlag.
Sie können jetzt die Kontrolle abgeben? Kontrolle ist ja das Thema des Romans.
Stimmt, ist mir gar nicht aufgefallen, so gesehen passt das.
Um Kontrolle geht es auch im Buch, das Sie mit Ilja Trojanow herausgeben.
Das ist ein Manifest. Wir wenden uns gegen den Abbau von Bürgerrechten im Anti-Terror-Kampf – und gegen die Idee, man müsste die Leute an die kurze Leine nehmen. Thema ist die Entmündigung und Infantilisierung des Einzelnen.
Beobachten Sie denn eine solche Entmündigung?
Ja, absolut. Das ist ein Prozess, in dem der Staat sich neue Kompetenzen verschafft und eingreift in die privaten Rechte des Bürgers. Das ist so eine Art Umkehrung der Aufklärung: Erst für den mündigen Bürger kämpfen und jetzt, wo man ihn hat, der Versuch, das rückgängig zu machen.
Was bezwecken Sie mit diesem Pamphlet?
Wir wollen die Menschen über die Auswirkungen aufklären. Wir untersuchen die Gesetze, die nach dem 11. September erlassen worden sind und weisen in Einzelfällen nach, inwieweit diese überhaupt geeignet sind, den Terrorismus zu bekämpfen – Rasterfahndung, biometrischer Reisepass, Online-Durchsuchungen, Video-Überwachungen.
Welche Entwicklung finden Sie besonders dramatisch?
Vor allem eine, die gerade in Großbritannien stattfindet: die politische Verurteilung des sozialschädlichen Verhaltens. Dabei handelt es sich um kleine Alltagsentgleisungen wie Fahrradfahren auf dem Bürgersteig, das Wegwerfen von Kaugummipapier. Darin sieht die Politik die Wurzel einer ungehorsamen, kriminellen Gesellschaft. Die bekämpfen dort unter Anwendung von Anti-Terror-Gesetzen den Lärm spielender Kinder! Bei uns gibt es bereits Politiker – zum Beispiel Angela Merkel – die sich den Begriff des sozialschädlichen Verhaltens zu eigen machen.
Was bedeutet denn nun Kontrolle für Sie ganz persönlich?
Das ist etwas, was vor allem der Mensch selbst haben sollte. Wenn Kontrolle von anderen ausgeübt wird, hat sie schnell mit Entmündigung zu tun. Deshalb macht mich Kontrolle misstrauisch, auch wenn ich einsehe, dass sie zuweilen notwendig ist – zwischen Staat und Bürger, Eltern und Kindern, in Arbeitsverhältnissen.
Und Vertrauen?
Ganz wichtig. Das ist Grundlage unseres Systems, der Demokratie. Wenn wir nicht davon ausgehen, dass die Menschen grundsätzlich guten Willens sind, dass sie friedlich zusammenleben wollen und reif genug sind, die Macht des Volkes verantwortlich zu handhaben – wenn wir das nicht glauben, müssten wir die Demokratie abschaffen.
Stellt ein Mehr an Kontrolle also die Systemfrage?
Das ist genau das, was als Fluchtpunkt der Sorgen am Horizont steht. Ich bin keine Kassandra und kein Apokalyptiker, aber ich würde das von der Richtung her genau so sehen: dass man sich durch eine Überhöhung der Kontrollfunktionen die Grundlage entzieht.