Velbert. Ein Mann aus Velbert darf nicht wählen, obwohl er sich dazu geistig durchaus in der Lage fühlt. Nach einem Schlaganfall lag er Wochen im Koma und steht seitdem unter Betreuung.

Er hat sich gefühlt wie ein Mensch dritter Klasse, sagt er. Schlimm und erniedrigend sei das gewesen, weiß Helmut Krantz* noch, als er im Wahllokal in Velbert fragte, ob man ihn vergessen hätte. „,Sie dürfen nicht wählen', hat der junge Mann zu mir gesagt, und er kann ja nichts dafür. Er hat noch angerufen und sich erkundigt.” Krantz, 69, stand da und hinter ihm standen die anderen. „Da kam ich mir nur blöd vor”, sagt er kaum hörbar und drückt die Zigarettenkippe langsam im Aschenbecher aus. Peinlich ist ihm das alles, auf dem Foto, das in seiner kleinen Zweizimmerwohnung entsteht, will er nicht zu erkennen sein. „Bitte nicht, die Leute müssen das so genau nicht wissen.”

An ein Versehen gedacht

Es dauert keine Minute, um herauszufinden, dass Helmut Krantz nicht blöd ist. Er ist nicht verwirrt, nicht einmal unkonzentriert, er spricht klar und deutlich.Aber er steht seit zwei Jahren unter voller Betreuung. Und hat damit, so will es das Gesetz, sein Wahlrecht verloren. Bis auf weiteres. Obwohl er „voll geschäftsfähig” ist, wie es bürokratischer kaum heißen könnte, also Geschäfte machen darf, ohne jemanden fragen zu müssen. Er hat es nicht gewusst, es für ein Versehen gehalten, dass er zur Europa- und zur Kommunalwahl keine Karte erhielt.

„Das ist Wahnsinn”, findet er, „Politiker schimpfen über die niedrige Wahlbeteiligung, und ich darf nicht, obwohl ich will und immer wählen gegangen bin? Ich bin doch nicht verrückt.” Den, der dieses Gesetz unterschrieben hätte, den würde er gern mal kennenlernen. Dass nicht mal deutsche Gesetze jeden Einzelfall regeln können, ist kein Trost für den, der zum Einzelfall wird.

Schlaganfall

Helmut Krantz gießt pechschwarzen Kaffee aus der silbernen Thermoskanne in die Tasse und zündet sich die nächste Zigarette an. Aus Ostpreußen stammt er, 1958 kam er mit den Eltern in den Westen. Er hat den Mauerbau in Berlin erlebt, weil er 1961 in Wedding lebte. „An dem Tag hat keiner mehr gearbeitet, wir sind zur Bernauer Straße gefahren”, erinnert er sich. Er habe sich immer für „die hohen Herrschaften in der Politik” interessiert, er spricht über Adenauer und Brandt, über Genscher, den er in der Deilbachmühle als Kellner persönlich bediente. Aber auch über Afghanistan. „Dass die Deutschen da mitmachen, finde ich falsch”, sagt er und pustet eine Qualmwolke über den Tisch. Keine auswendig gelernten Sätze, Krantz ist informiert.

Wochen im Koma

Im Juni 2007 war das, als er in seiner Wohnung im alten Ortskern von Langenberg zusammenbrach – Herzinfarkt. „Ich bin ins Treppenhaus und unten umgekippt”, erinnert er sich. Mücke, sein schwarzer Mischlingshund, habe an der Tür des Nachbarn gekratzt.

Fünf, sechs Wochen lag er im Koma. Weil keine Verwandten in Sicht waren, stellten die Ärzte einen Antrag beim Amtsgericht auf volle Betreuung, schließlich seien Entscheidungen zu fällen. Der Patient, der schon klinisch tot war und ins Leben zurückgeholt wurde, trägt seither einen Herzschrittmacher.

Helmut Krantz hat Familie. „Aber die ist nicht hier, und darüber will ich nicht sprechen”, sagt er und schüttelt kaum merklich den Kopf. Die Wände sind voll mit fröhlichen Kinderbildern und Hochzeitsfotos, es sind aber offenbar überwiegend Erinnerungen an seine Lebensgefährtin, die nach 24 gemeinsamen Jahren 2005 starb. 1968 hatte er sich scheiden lassen, „danach”, sagt er, „ist mit der Familie alles im Sand verlaufen.” Die blauen Augen, die hinter den Brillengläsern ihr Gegenüber bislang ohne Unterbrechung fixierten, suchen auf dem Tisch Halt an einer ausgebreiteten Fernsehzeitschrift. Nachfragen unerwünscht.

So wurde Andrea Gornik wie ein Stück Familie für ihn. Die Sozialarbeiterin vom Betreuungsbüro Hattingen besucht ihn täglich. Warum muss er überhaupt noch betreut werden? „Er ist mit Ämter- und Geldangelegenheiten überfordert”, erzählt sie. Krantz nickt, hat das zu spüren bekommen. Berufskellner war er, „aber ich hatte ein paar schlampige Arbeitgeber.” Die hatten ihn nur unzureichend oder gar nicht versichert, heute muss er von einer Minirente und Grundsicherung leben.

Sie gibt ihm Sicherheit

Dass Andrea Gornik sich kümmert, gibt ihm Sicherheit, er will auf ihre Hilfe und ihre Nähe nicht verzichten. „Es war sicher auch ein Stück Bequemlichkeit, dass er unter voller Betreuung bleiben wollte”, glaubt sie. „Als die zuständige Behörde ihn nach einem halben Jahr befragt hat, ob alles beim Alten bleiben soll, da hat er natürlich Ja gesagt. Die Konsequenzen haben wir beide nicht gewusst.” Sie hat einen Antrag beim Amtsgericht gestellt, Arbeitstitel „Reduzierung der Aufgaben”. Denn sobald Krantz nicht mehr unter voller Betreuung ist, dürfte er wieder wählen gehen. Das Gericht hat ein ärztliches Attest verlangt. „Das wird er bekommen”, ist sie überzeugt. Nur nicht rechtzeitig, zur Wahl.

Aber im Mai 2010, immerhin, da ist doch Landtagswahl. Krantz lächelt milde, als ob er nicht daran glaubte, diesen Tag noch zu erleben. „Ich hab' da keine großen Erwartungen mehr. Ich bin froh, wenn ich jeden Morgen aufwache.”

* Name geändert