Santiago de Chile. Chile ist das Vorzeigeland Südamerikas. Politisch und wirtschaftlich ist die Entwicklung bemerkenswert. Doch hinter der prächtigen Fassade gibt es auch Schattenseiten. Arm und Reich liegen in Chile nämlich dicht beieinander.

Von der Plaza Italia im Herzen Santiagos sind es über die Schnellstraße Costanera entlang des Mapocho-Flusses nur zehn Minuten bis ins Finanzzentrum der chilenischen Hauptstadt. Auf dem Weg fällt der Blick auf die leuchtenden Anden, deren Gipfel selbst jetzt im südamerikanischen Sommer noch von Schnee bedeckt sind. Es ist noch nicht so lange her, da verschwanden die Kuppen ganzjährig hinter einer dicken Smog-Schicht. Aber das scheint ein anderes Chile gewesen zu sein.

"San-Hattan"

Hier, in den Stadtteilen Providencia und Las Condes, entstanden in den vergangenen Jahren Hochhäuser, Bürotürme und Einkaufszentren: die sichtbarsten Zeichen des Booms in der fünftgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas. „San-Hattan“ tauften die Einwohner Santiagos den neuen Finanzdistrikt in einer Mischung aus Ironie und Selbstüberschätzung.

Wahrscheinlich ist Santiago die Stadt in Lateinamerika, deren Bild und Ruf sich in den vergangenen 20 Jahren am stärksten veränderten. Seit dem Ende der Pinochet-Diktatur entstanden moderne Verkehrssysteme mit umweltfreundlichen Bussen, mehr U-Bahnen und Stadtautobahnen. Santiagos Image wandelte sich von der verrußten, grauen Stadt hinter den Bergen, wo ein finsterer Diktator herrscht, zu einer modernen, hellen und weltoffenen Stadt. Damit steht die Sechs-Millionen-Metropole für das Image des ganzen Landes. Chile ist vom politischen Schmuddelkind zum demokratischen Vorzeigeland Lateinamerikas geworden. Und das „chilenische Modell“ wird oft Vorbildcharakter für die Region zugeschrieben. Es ist ein Vorbild mit viel Licht, aber auch viel Schatten. Doch dazu später.

Der stabilste Staat der Region

Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1990 ist Chile der wirtschaftlich und politisch stabilste Staat der Region. Das schmale Land zwischen Kordilleren und Pazifik hat sich konsequent der globalen Wirtschaft geöffnet und gilt heute als zuverlässigster und wettbewerbsfähigster Staat Lateinamerikas, ausgerüstet mit moderner Infrastruktur, Freihandelsverträgen mit 56 Staaten und Handelsbeziehungen nach Asien, Europa und den USA. Seit dem Ende der Diktatur blüht der Export von Kupfer, Wein, Obst, Lachs, Zellulose und Holz erst richtig.

Manuel Riesco ist Ökonom am alternativen Forschungsinstitut CENDA. Er sieht das oft gelobte „chilenische Modell“ kritisch, und wenn man ihn nach den Schattenseiten fragt, rudert er mit den Armen und sagt apokalyptische Sätze wie diesen: „Das Modell geht den Bach runter“. Sieben von zehn Dollar verdiene Chile mit dem Verkauf von Rohstoffen, kritisiert Riesco. Damit sei die Wirtschaft extrem anfällig für die volatilen Preise für Commodities. Wozu das führt habe man im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ja gesehen: „Die Kupferexporte, die ein Viertel zur chilenischen Wirtschaftsleistung beitragen, sind zwischen Januar und Juni um die Hälfte gefallen“, sagt Riesco. Und wenn die Weltmarktpreise einbrechen, breche auch Chiles Wirtschaft ein, schiebt er hinterher. „Im gleichen Zeittraum sind die Exporte insgesamt um 40 Prozent zurückgegangen, weil Kupfer so wichtig ist."

Größter Kupferproduzent der Welt

Chile hat seine Wirtschaft in den vergangenen Jahren fast völlig auf den Verkauf von Rohstoffen umgestellt. Das Land ist mit Abstand weltweit größter Kupferproduzent, aber inzwischen kommen auch Zellulose, Holz und Zuchtlachs fast immer aus Chile. Wein und Obst sind schon lange bekannte Produkte des Landes. Traditionelle Branchen wie die Schuh- und die Textilindustrie gingen bei dieser Umstellung fast völlig verloren. So wurde auch Chile von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise hart getroffen. Nach Jahren kräftigen Wachstums von teilweise über fünf Prozent schrumpft das Bruttoinlandsprodukt Chiles dieses Jahr nach Voraussagen der der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL um 1,8 Prozent.

Aber neben der Anfälligkeit für Krisen bringt die Rohstoff-Fixierung auch Umweltprobleme etwa bei der Lachszucht mit sich. Zudem werden die Mapuche-Ureinwohner im Süden aus ihren angestammten Regionen vertrieben, weil die Regierung die Flächen für den Verkauf oder die wirtschaftliche Nutzung haben will.

"Chile verschenkt seine Rohstoffe"

„Außerdem verschenkt Chile seine Rohstoffe“, moniert der Ökonom Riesco. Seit 1990 regiert die „Concertación“, ein Mitte-links-Bündnis, aus vier Parteien von Christdemokraten bis Sozialisten. Diese Allianz, entstanden aus der Opposition gegen den Gewaltherrscher Pinochet, hat das Wirtschaftsmodell fast unverändert übernommen, das ihr die Diktatur hinterlassen hat. Noch immer ist Chile das neoliberale Paradies, wo Unternehmen so gut wie keine Steuern zahlen und multinationale Unternehmen natürliche Ressourcen ausbeuten können, ohne dass darauf Royalties erhoben werden. Erst vergangenes Jahr gelang es den Parlament eine minimale Abgabe durchzusetzen. Seither müssen die internationalen Bergbaukonzerne, die über 70 Prozent des chilenischen Kupfers ausbeuten, vier Prozent ihrer Gewinne in die wissenschaftliche Forschung investieren. Keiner der beiden Kandidaten, die am 17. Januar in die Stichwahl um das Präsidentenamt in Chile gehen, hat übrigens das Thema Royalties in seinem Wahlprogramm.

Der Aufschwung der vergangenen Jahre hat Chile ein beachtliches Wachstum gebracht, wodurch die Armut nach Regierungsangaben um fast 20 Prozent reduziert werden konnte. Aber nach wie vor gehört Chile zu den zwölf Ländern mit der größten Schere zwischen Arm und Reich. Legt man den Gini-Koeffizienten zugrunde, der einkommensbedingte soziale Ungleichheit misst, reiht sich Chile bei Entwicklungsländern wie Honduras und Sierra Leone ein. Viele Chilenen haben bis zu drei Jobs, da sie nur so die Ausbildung ihrer Kinder und die hohen Lebenshaltungskosten bezahlen können.

Das höchste Gebäude Südamerikas

In „San-Hattan“, in Santiagos Finanzdistrikt, haben sie Mitte Dezember die Wirtschaftskrise übrigens ganz offiziell für beendet erklärt: Präsidentin Michelle Bachelet weihte die Wiederaufnahme der Bauarbeiten an einem der ehrgeizigsten Projekte ganz Lateinamerikas ein. Ein knappes Jahr ruhte krisenbedingt die Konstruktion des „Costanera Center“, einem gigantischen Projekt, das 2006 begonnen wurde und nach dessen Vollendung in Santiago de Chile einmal das höchste Gebäude Südamerikas stehen soll. Der höchste der vier geplanten Türme soll 70 Stockwerke haben und 300 Meter hoch sein. Anfang dieses Jahres waren die die Arbeiten abrupt beendet worden, da es An Geld mangelte. Monatelang baumelte an dem Rohbau einsam ein Banner, das wie bittere Ironie wirkte: „Symbol für Lateinamerikas Entwicklung“, stand darauf geschrieben.

Zu der guten Nachricht des Weiterbaus gesellte sich dieser Tage noch ein Brief aus Paris, der das Herz von Präsidentin Bachelet höher schlagen ließ. Die Industrieländer-Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Chile eingeladen, das erste Mitglied in Südamerika zu werden. Bisher ist Mexiko das einzige lateinamerikanische Mitglied. Bereits am 11. Januar soll der Beitritt besiegelt werden. Mit der Aufnahme Chiles honoriert die OECD die wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren. Generalsekretär José Ángel Gurria lobte zudem Chiles Kampf gegen die Korruption, die Verbesserung der Regeln für Unternehmen sowie die Transparenz der Steuerverwaltung.