Berlin. Zukunftsforscher sind sich in einem Punkt einig. „Gesundheit wird das Wichtigste im Leben”, glaubt Horst Opaschowski, Chef der Hamburger BAT Stiftung für Zukunftsfragen.
Sein Kollege Andreas Steinle vom Kelkheimer Zukunftsinstitut spricht sogar von einem „Megatrend”. „Wir müssen gesünder alt werden, um lange arbeiten zu können.”
Leicht wird das nicht. Denn die Gesundheitsversorgung wird immer teurer – und es gibt eine Zwei-Klassen-Medizin mit Privatpatienten an der Spitze und gesetzlich Versicherten mit einem abgespeckten Leistungskatalog.
Pessimisten wie die Fachleute vom Fritz-Beske-Institut in Kiel sehen ohne tief greifende Reformen schwarz. Dann werde der Beitragssatz je nach Ausmaß des medizinischen Fortschritts Mitte des Jahrhunderts zwischen 27 und 44 Prozent des Bruttolohnes liegen. Heute geben Arbeitnehmer und Arbeitgeber knapp 15 Prozent für die medizinische Versorgung aus. Damit die Beiträge nicht so hoch steigen, halten die Kieler neben organisatorischen Einsparungen Einschnitte in den Leistungskatalog für notwendig. Die wichtigsten Behandlungen würden dann von den Kassen ganz bezahlt, für andere müssen die Patienten zuzahlen.
Alle medizinisch notwendigen Leistungen
Deutschland ist eines der weltweit wenigen Länder, in denen alle Versicherten alle medizinisch notwendigen Leistungen erhalten. Die Optimisten glauben, dass sich daran auch nichts ändern muss. Dazu gehört zum Beispiel Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin. Der Professor ist auch Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung. „Gesundheitsschutz trägt zum sozialen Frieden bei und ist auf Dauer bezahlbar”, sagt der Regierungsberater und verweist auf die vorigen Jahrzehnte.
Problematisch seien nicht die Ausgaben, sondern die Einnahmen. Rosenbrock sieht in der Bürgerversicherung die Lösung der Finanzprobleme. Dann müssten alle, auch Selbstständige, Kassenbeiträge bezahlen. Privatkassen würden abgeschafft. Wenn später doch Leistungen rationiert werden müssten, solle dies alle gleich betreffen.
Leistungskürzungen lehnen auch die Krankenkassen ab. „Es gibt nachweislich Wirtschaftlichkeitsreserven”, heißt es in einem Positionspapier ihres Spitzenverbands. Dazu gehören die bessere Koordination der Ärzte und Krankenhäuser, mehr Wettbewerb oder Einsparungen bei Arzneien.
Vorsorge kommt besondere Bedeutung zu
Der wichtigste Schritt klingt ganz einfach. „80 Prozent der Kosten sind verhaltensbedingt”, erläutert Zukunftsforscher Steinle. Deshalb kommt der Vorsorge künftig eine bedeutendere Rolle zu. Wie schon beim Rauchen wird der Staat wohl auch bei anderen ungesunden Verhaltensweisen steuernd eingreifen. Andere Länder sind da schon weiter. So erhalten die Eltern zu dicker Kinder in England Mahnbriefe von den Behörden. Rosenbrock sieht vor allem im Ausbau der öffentlichen Leistungen für Kinder einen Weg, die Jüngsten früh an ein gesundheitsbewusstes Leben heranzuführen.
Je weniger Krankheiten entstehen, desto sicherer ist die finanzielle Lage des Systems. Es gibt also eine berechtigte Hoffnung, dass sich Deutschland auch weiterhin eines der weltweit besten Versorgungssysteme leisten kann. Evolution statt Revolution, lautet das Motto. Finanzierung und Leistungen werden ständig den Gegebenheiten angepasst, weil sich die Bedingungen laufend ändern, etwa durch den Fortschritt und die Alterung. Wenn Politiker eine Jahrhundertreform versprechen, ist daher Skepsis angezeigt.
Ein Grundsatzstreit könnte aber dazu führen, dass die Gesundheitspolitik in eine ganz andere Richtung marschiert. Die schwarz-gelbe Koalition will die Arbeitgeberbeiträge festschreiben. Alle künftigen Kostensteigerungen müssten die Arbeitnehmer allein bezahlen. Auch bei den Leistungen ist offen, ob die Bürger bald einzelne Risiken privat absichern sollen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hält das für gefährlich. Es würde „zu einer Drei-Klassen-Medizin führen”, kritisiert DGB-Vorstand Annelie Buntenbach. Das wären Privatversicherten, Durchschnittsverdiener sowie Geringverdiener und Rentner, die ihre Zusatzbeiträge nicht selbst aufbringen können. Der DGB will die Arbeitgeber nicht aus der Pflichtversicherung entlassen und höhere Steuerzuschüsse an die Krankenversicherung, weil so auch Vermögende mit zur Kasse gebeten werden. 2010 wird das Jahr der Weichenstellung.