London. In Großbritannien wird über die Eingliederung von Aspekten der Scharia ins britische Rechtssystem diskutiert. Viele befürchten eine Parallel-Gerichtsbarkeit. Doch die Imame der islamischen Schiedsgerichte geben sich moderat.
Blühende Hortensien nebst Cabrios am Wegesrand und viel bürgerliches Reihenhaus-Idyll – so sieht es aus vor der Tür einer Einrichtung, die viele Briten ganz weit oben auf die Liste der gefühlten Staatsfeinde setzen würden. Dass Mohammed Raza, Vorsitzender der britischen Scharia-Räte, hier im Londoner Westen hauptsächlich muslimische Frauen aus ihren Ehen befreit, wäre für sie die zweite große Überraschung.
Die dritte ist der Imam selbst: Ein moderater, höflicher Mann mit einem großen Wunsch: „Es wäre prima, wenn mein Job überflüssig werden würde”, sagt er, „wenn der Staat die religiöse Ehe der Frauen auflösen, und ich den Rat schließen könnte.”
Kollektiver Protest
Die Nachricht, dass in ihrem Land ein paralleles Rechtssystem operiert, traf die Briten im vergangenen Jahr wie ein Schlag. Der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, hatte sich für die „unvermeidliche” Integration von Scharia-Aspekten ins Zivilrecht ausgesprochen und damit die Existenz der rund 80 islamischen – und jüdischen – Glaubensgerichte überhaupt erst auf den Tisch gebracht.
Er erntete kollektiven Protest. Genau wie der bayerische Landtagsabgeordnete Georg Barfuß in Deutschland. Er musste seine Ambitionen als Integrationsbeauftragter im November 2008 aufgeben, nachdem er sich ähnlich geäußert hatte: „Wo sich die Scharia mit dem Grundgesetz als kompatibel herausstellt, soll sie in Bayern erlaubt sein.”
Auf der Insel ist Barfuß Idee längst Realität: Auf Basis des muslimischen Religionsgesetzes regeln islamische Schiedsgerichte und Scharia-Räte in vielen Städten Streitigkeiten zwischen Gläubigen.
Über 300 Frauen rufen jedes Jahr allein die Dienste des Imam Raza an. Sie alle haben das gleiche Problem: Sie können sich zwar am Familiengericht scheiden lassen, für eine Trennung nach muslimischen Regeln brauchen sie jedoch das Einverständnis des Ex-Gatten. „Wir setzen dann einen Scheidungserlass auf, stellen ihn zu und lösen die Ehe auf. Die Männer können sich wehren, aber die Scharia regelt das klar: Will die Frau eine islamische Scheidung, dann bekommt sie die”, sagt Raza.
Für die muslimische Frau
Der Imam ist nicht glücklich mit dem Prozedere. Am liebsten wäre ihm, wenn die Mainstream-Gerichte bei einer Scheidung die religiöse Ehe der Frauen gleich mit auflösten. Scharia-Regeln könnten so von Juristen umgesetzt werden – das konkrete „Wie” sei Sache des Justizministers. Eine solche Kombination von Zivilrecht und ausgesuchten Scharia-Prinzipien hält er sogar für integrationsfördernd: „Muslima finden es unfair, dass ihre britischen Freundinnen nur ein Scheidungsverfahren brauchen, sie aber zwei.”
Auf Expansionskurs befinden sich andere Scharia-Institutionen, wie die Schiedsgerichte des „Muslim Arbitration Tribunal”. Fünf solcher Rechtsbüros haben in London, Manchester und Birmingham eröffnet, weitere in Glasgow und Edinburgh sollen folgen. Ähnlich wie in deutschen Schiedsstellen setzten sich hier Imame und Anwälte mit Erbstreitereien und Geschäftsdisputen auseinander. Die Konflikte werden scharia-kompatibel gelöst, sofern die Beteiligten damit einverstanden sind.
Doch der allmähliche Aufstieg der „Schatten-Scharia” zu einem offiziellen Tandempartner der britischen Justiz ist nicht allen Muslimen geheuer. Wenig bringt Maryam Namazie von der Initiative „One Law For All” (Gleiches Recht für alle) so in Rage wie ein Imam, der die Scharia als frauenfreundlich auslegt: „Es gibt Fälle, da haben Schiedsgerichte den Brüdern doppelt so viele Erbanteile zugestanden wie den Schwestern, weil es eben ein Scharia-Prinzip ist.”