Essen. Countertenor Philippe Jaroussky hat sich der Arien Johann Christian Bachs angenommen. Ein Gespräch über den Geist des Barock, die Vermarktung der Klassik und die Uneindeutigkeit der Geschlechterrollen.

Mit 31 ist Philippe Jaroussky der jüngste unter den international arrivierten Countertenören. Sein eleganter Gesangsstil fasziniert. Zur mühelosen Höhe und perfektem Stimmsitz kommt außerordentliche Musikalität. Nach seinem Ausflug in das französische Kunstlied des Fin de Siécle auf seiner CD „Opium” kehrt der blendend aussehende Franzose nun mit seiner neuesten Einspielung mit Arien aus Opern Johann Christian Bachs zu seinem eigentlichen Metier zurück, dem Repertoire der Kastraten. In „La dolce fiamma” (Virgin Classics) gibt er mit Jérémie Rhorer und dem „Cercle de l'Harmonique” einen ebenso faszinierenden wie schillernden Einblick in die Musik des Opernstars der Bach-Familie aus der Zeit zwischen Barock und Klassik. Mit dem sympathischen Sänger ohne Starallüren sprach Dirk Aschendorf.

Monsieur Jaroussky, sie studierten Geige, Klavier, später erst Gesang. Warum wurden Sie Countertenor?

Philippe Jaroussky: Als Teenager hatte ich eine Art Schock-Erlebnis. Ich hörte den französischen Counter Fabrice de Falco in einem Konzert. Der Eindruck ließ mich nicht mehr los. Ich wollte singen, begann schließlich mit 18 Gesang zu studieren. Die Entscheidung für das Stimmfach war einfach, ich hatte eine sehr hohe Sopranstimme.

Heute ist ihre Musik-Welt die der Kastraten, der Superstars des 18. Jahrhunderts. Kann ein Countertenor heute die Faszination dieser verlorenen Stimmen eines Farinelli, Tenducci oder Carestini, mit dessen Repertoire Sie sich ja besonders auseinandersetzten, zurückbringen?

Philippe Jaroussky: Die Faszination ja, aber nicht die Stimme. Meine Motivation war, die Vorstellung einer idealen Stimme zu präsentieren. Als ich zum Beispiel die Carestini-Arien aufnahm, habe ich nie vorgegeben, dessen Stimme einzufangen, nachzuahmen. Man kann versuchen, sie aus dem Geist der Musik heraus zu entwickeln.

Ist das nicht eine sehr wissenschaftliche Herangehensweise, wie können wir wissen, wie die Musik zu jener Zeit geklungen hat? Anders: Was ist Authentizität?

Philippe Jaroussky: Seit 20, 30 Jahren beschäftigen wir uns intensiv mit Barockmusik. Je mehr wir erforschen und schließlich wissen, desto mehr müssen wir eine Balance zwischen Wissen und Stilistik herstellen. Aber am Ende muss man sein Herz sprechen lassen, ganz viel ist dann einfach Intuition.

Auch Sängerinnen, wie zum Beispiel die Bartoli, greifen mehr und mehr in die Barock-Kiste, interpretieren die Musik der alten Kastraten. Wer sind denn nun die eigentlichen Nachfolger dieser untergegangenen Stimmen, die Frauen oder die Counter?

Philippe Jaroussky:Ich bin kein fanatischer Countertenor, wir besitzen nicht allein die Wahrheit der Interpretation. Ich mag auch die Mezzos oder die Soprane mit dieser Musik. Manchmal sind die sogar kraftvoller oder dramatischer als wir. Zuweilen bin ich etwas neidisch auf Cecilia Bartoli oder Joyce Didonato, denn sie können viele Partien singen, die ich nicht beherrsche. Man muss eben für seine Stimme die jeweils passende Musik finden.

Für „La dolce fiamma” schürften Sie bei Johann Christian, dem „Londoner Bach”. Warum gerade diese Musik, die lange auch von den Aufnahmestudios gemieden wurde?

Philippe Jaroussky: Einmal mag ich den so genannten „galanten Stil”, diesen Übergang zwischen Barock und Klassik. Dann wollte ich keine Mozart-CD machen, spürte aber deutlich den Einfluss, den Johann Christian auf Mozart hatte. Er ist sozusagen die Brücke zwischen Händel und der Klassik. Und oft meint man doch, Mozart zu hören.

Die Musik der Kastraten, aber auch die Stimme der Countertenöre, wird oft als androgyn beschrieben. Männer mit „Frauenstimmen”, Frauen in Männerrollen. Wo stehen Sie selbst gefühlsmäßig, wenn Sie diese Musik gestalten?

Philippe Jaroussky: Ich denke es geht erst einmal um Affekte, um eine möglichst ideale Gestaltung dieser Musik, dieser Rollen. Die Festlegung hohe Stimme ist weiblich, tiefe Stimme männlich kam so erst mit der Romantik. Im Barock liebte man dieses Changieren, eine gewisse Uneindeutigkeit, da sangen auch mal Frauen die Männerolle, während der Kastrat vielleicht die bessere Cleopatra war.

Stört es Sie, dass man heute mehr auf das CD-Cover setzt, die Marketing-Maschine das – in Ihrem Falle auch noch blendende, jungenhafte – Aussehen vermarktet? Gay-Ikone und Frauenschwarm zugleich: Ist man Herr über sein Image?

Philippe Jaroussky: Die Dinge verändern sich auch im Klassik-Bereich. Natürlich setzen wir das Aussehen ein. Aber wenn es hilft, Menschen diese Musik nahe zu bringen, warum nicht? Aber ich habe weder das Gefühl, dadurch mein Leben zu verändern, noch das Publikum zu belügen. Gesang und Musik kommen immer zuerst.

Wann kommt Ihre nächste Aufnahme? Gibt es schon Pläne, sich wie in „Opium” stärker mit der Musik des 19. oder 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen?

Philippe Jaroussky: Die nächste Einspielung erscheint im Sommer 2010. Mit dem Concerto Köln mache ich italienische Barockarien. Aber „Opium” war kein einzelner Ausflug in die Musik nachfolgender Zeiten. Abwarten . . .

CD-Tipps

Zu den jüngsten Einspielungen von Philippe Jaroussky gehören „Heroes - Arien von Antonio Vivaldi”, mit Jean Christophe Spinosi und dem Ensemble Matheus, dann die bereits erwähnten „Carestini - The Story of a Castrato” mit Le Concert d'Astrée unter Emanuel Haim und „Opium - Mélodies françaises” mit Jérôme Ducros am Klavier. Alle bei Virgin Classics.