Zehn Jahre Viagra - Medizinische Sicht von Erektionsstörungen änderte sich radikal.75 Prozent der Patienten kann geholfen werden. Auswirkungen auf Früherkennung von Herzerkrankungen
Vor zehn Jahren wurde das Medikament Viagra in den USA zugelassen. Die blaue Pille veränderte die Behandlung von Erektionsstörungen - und den Blick der Ärzte auf ein komplexes medizinisches Problem.
Freimütig räumen Fachärzte ein, Viagra habe medizinische Sichtweise, Diagnostik und Therapie von Potenzstörungen geradezu revolutioniert. Die frühere Vorstellung, hinter Erektionsproblemen stecke eine labile Psyche, gilt heute als überholt. "Wir haben gelernt, dass das Problem meist organisch bedingt ist", sagt die Andrologin Sabine Kliesch vom Universitätsklinikum Münster. Zwar seien viele Männer nach einem Durchhänger beim Sex psychisch verunsichert, aber: "Eine rein psychisch bedingte erektile Dysfunktion ist die Ausnahme", betont die Ärztin.
Acht Prozent aller Männer haben laut Kliesch Erektionsstörungen, wobei der Anteil mit zunehmendem Alter steigt. Betroffen ist schätzungsweise jeder dritte Mann über 60 und jeder Zweite über 70. Und mit einem Anteil von rund 70 Prozent sind Gefäßstörungen die häufigste Ursache des Problems.
Vor zehn Jahren mussten die Betroffenen - sofern sie überhaupt medizinische Hilfe suchten - auf abenteuerliche Mittel zurückgreifen und sich etwa Potenzmittel in den Schwellkörper spritzen. Eine Behandlung auf die dann eine Erektion von ein bis drei Stunden Dauer folgte. Nun schlucken Männer eine Tablette, deren Wirkung je nach Präparat zwischen einigen Stunden und drei Tagen andauert die und nicht spontan zu einer Erektion führt.
Der Grund: Nur bei Stimulierung wird im Schwellkörper des Penis der Botenstoff cGMP freigesetzt. Erektionsstörungen beruhen stets auf einem cGMP-Mangel im Schwellkörper. Viagra fördert nicht die Bildung des Botenstoffs, sondern hemmt das Enzym PDE-5, das ihn abbaut. Damit hält der PDE-5-Hemmer den Botenstoff über dem Schwellenwert, der für eine Erektion erforderlich ist.
Entdeckt wurde der Wirkmechanismus durch Zufall: Der Pharmakonzern Pfizer entwickelte 1989 den Wirkstoff Sildenafil zur Therapie der koronaren Herzkrankheit. Als auffällig viele männliche Teilnehmer der Teststudien von Erektionen erzählten, konzentrierte Pfizer sich auf diese Nebenwirkung.
Neben der Therapie der erektilen Dysfunktion haben die PDE-5-Hemmer noch ein zweites medizinisches Problem gebessert: Die Früherkennung der koronaren Herzerkrankung. Da die Blutgefäße im Schwellkörper noch feiner sind als die des Herzens, machen sich Ablagerungen hier am ehesten bemerkbar. Bei 20 bis 30 Prozent der Patienten, so Kliesch, seien Erektionsstörungen ein Warnsignal für drohende Herzprobleme. Daher überweist die Andrologin Patienten mit weiteren Risikofaktoren wie etwa Bluthochdruck zur Abklärung an Internisten.
Seit das Potenzmittel auf dem Markt ist, hat das früher verschämt verschwiegene Thema die Tabuzone verlassen. "Männer gehen früher zum Arzt und reden mehr über diese Probleme", sagt Kliesch. Dazu trägt sicher die Hoffnung auf rasche Hilfe bei. Die PDE-5-Hemmer - neben Viagra die Präparate Levitra und Cialis - machen etwa 75 Prozent der Patienten wieder zum Beischlaf fähig. "Viagra wirkt recht zuverlässig", sagt der Hamburger Urologe Hartmut Porst. "Die meisten Männer sind zufrieden."
Die PDE-5-Hemmer helfen zwar oft, aber sie heilen selten. Viele Patienten nehmen die Medikamente lebenslang - sofern sie es sich leisten können. Der Preis von zehn bis 15 Euro pro Pille, den die Kassen nicht erstatten, übersteigt laut Porst bei jedem dritten Patienten das Budget. Daher blüht der Schwarzmarkt über das Internet. "Ich warne die Patienten davor", sagt Porst. "Sie wissen nicht, was drin ist." Trotz der illegalen Konkurrenz macht sich Viagra für Pfizer bezahlt. Die Potenzpille erzielte nach Angaben des Konzerns im Jahr 2007 weltweit einen Umsatz von rund 1,8 Milliarden Dollar (1,14 Milliarden Euro).