Warum manche Menschen keine Chance haben – und sie trotzdem nutzen. Das ist nicht nur eine Frage des Charakters, sondern auch der Gene
Stan Praimnath telefonierte mit einem Kollegen, als er aus dem Fenster seines Büros blickte, ein nettes Büro, 81. Stock im Südturm des World Trade Centers. Es war der 11. September 2001, 9.03 Uhr. „Ich konnte die Triebwerke kreischen hören, während die Maschine direkt auf mich zuflog. Dass ich nicht sofort getötet wurde, war ein Wunder. Ich rief zu Gott: Herr, schick mir jemanden, irgendjemanden. Ich habe zwei kleine Kinder. Ich will nicht sterben . . .” Zwischen Feuer und Rauch erblickte er plötzlich Licht: die Taschenlampe eines Brandwächters. Er gelangte ins Treppenhaus, er überlebte.
Rosina Philippe wuchs in Grand Bayou, Louisiana, auf. Noch bevor sich die Regierung zu Evakuierungsplänen durchrang, vertäuten die 125 Einwohner ihres Dorfes Austernschiffe und Fischerboote zum Konvoi. „Wenn jemand nicht gehen wollte, haben wir ihn dazu gebracht”, sagt Rosina Philippe – auch ein Akt der Nächstenliebe. Der Hurrikan „Katrina” machte am 29. August 2005 Grand Bayou dem Wasserspiegel gleich. Die 125 Bewohner überlebten: als Gemeinschaft.
Paul Barney campierte „aus Geiz” in einem der Cafés an Deck der Fähre. Es war der 28. September 1994. Barney erwachte, als die „Estonia” Schlagseite bekam. Die Welt verrutschte. Er kletterte an dem Dach des Promenadendecks entlang auf den seitwärts gedrehten Rumpf der „Estonia” – und schaffte es, sich mit anderen Passagieren in ein Schlauchboot zu retten. Stundenlang wärmte er sich mit hoffnungsvollen Gedanken: „Ich hatte einfach das Gefühl, noch nicht alles erreicht zu haben, was ich im Leben tun wollte, und insofern kam es gar nicht infrage, dass ich einschlafen und mitten in der Ostsee an Unterkühlung sterben würde.” Er überlebte.
Glaube, Liebe, Hoffnung. Kitschig, was? Tatsächlich aber sind dies drei Faktoren, die über Leben und Tod entscheiden können. (Der Geiz, sich keine Fährkabine zu leisten, aber auch.)
Wer überlebt eine Katastrophe – und wer nicht? Seit 9/11 interessieren sich Forscher verstärkt für die individuellen Umstände des Überlebens. Gibt es eine „Überlebenspersönlichkeit”? Spielen die Gene eine Rolle? Die Fitness? Oder der Optimismus? Natürlich gibt es Situationen, in denen niemand eine Chance hat – aber auch andere, in denen Menschen „wie durch ein Wunder” entkamen. Oder starben, obwohl sie doch hätten entkommen können. Selbst ein als „schwer” eingestuftes Flugzeugunglück (Feuer, erheblicher Materialschaden) überleben die meisten Menschen: nämlich weit über 50 Prozent!
Problem 1
Unser tiefer Glaube an Rettungskräfte, Helfer, Offizielle. Nun besagen Studien tatsächlich, dass bei der Evakuierung eines Flugzeugs mehr Menschen überleben, wenn das Flugpersonal klare Anweisungen erteilt, die Passagiere antreibt und ermutigt. Viele der Überlebenden aber sagen später: Sie hätten die Sicherheitshinweise studiert, sich die Notausgänge eingeprägt. Richtig so! „Wir sind, wenn alles schief geht, ganz auf uns allein gestellt”, schreibt Amanda Ripley, Journalistin beim US-amerikanischen Time-Magazine, in ihrem Buch „Survive”. Sie kritisiert daher, dass Regierungen oder Unternehmen die Hilfe zur Selbsthilfe erschwerten. Ein Beispiel: Bei den Terroranschlägen in London am 7. Juli 2005 auf U-Bahnen und Busse starben 52 Menschen. So gut das technische Überwachungssystem der U-Bahn gewesen sein mochte: Die Passagiere konnten die Waggontüren nicht selbstständig öffnen. Die Erste-Hilfe-Koffer lagen nicht in den Zügen, sondern in den Büros der U-Bahn-Überwachung.
Problem 2
Verleugnung. Das Nicht-wahrhaben-Wollen der Katastrophe kann ebenso tödlich sein wie das Warten auf Rettungskräfte. Paul Barney beobachtete auf der „Estonia” Menschen, die „sich einfach nicht bewegten”, ein Muster. Auch im World Trade Center verharrten Angestellte in Schockstarre in ihren Büros. Den Hurrikan „Katrina” überlebten besonders viele alte Menschen nicht – weil sie sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen. So wie Patrick Turner, den alles Zureden seiner Kinder nicht zur Flucht bewegen konnte. Man fand ihn später auf dem Dachboden, wohin er vor dem Hochwasser geflohen war – getötet hatte ihn ein Herzinfarkt. Andererseits kann die Ausblendung aller Gefahren ein Überlebensreflex sein. Bei Tieren beobachten Forscher, dass sie bei Bedrohung in einen Zustand der Lähmung verfallen. So passierte es auch Clay Violand, der am 16. April 2007 an der Virginia Tech in Blacksburg im Französischunterricht saß, als Seung-Hui Cho die Tür aufriss und zu schießen begann. Clay Violand legte sich unter seinen Tisch: „Ich versuchte, so leblos wie möglich auszusehen.” Er war der einzige in seinem Kurs, der überlebte. Insgesamt starben bei dem Amoklauf 32 Menschen.
Problem 3
Ist kleiner, als man vermuten würde, denn Panik bricht im Katastrophenfall eher selten aus. In seinem Buch „Wer überlebt?” zitiert der Journalist Ben Sherwood, Produzent beim US-Sender NBC, einen Flugsicherheitsexperten, der im Erstarren der Passagiere eine weit größere Gefahr sieht als in der panischen Flucht. Selbst im World Trade Center des 11. Septembers ging es so gesittet zu, dass man es kaum glauben mag: „Wir waren wie Roboter. Niemand drängelte, niemand versuchte schneller an der Treppe zu sein als die anderen. Alle gingen geschlossen als Gruppe zurück und reihten sich ordentlich wieder an der Treppe ein”, erinnert sich Elia Zedeno, die im 73. Stock des Nordturms die Anschläge erlebte.
Was hilft beim Überleben? Statistisch ist es ein Vorteil, jung, männlich, sportlich zu sein, so Sherwood. Unfair? Es wird noch unfairer. Es gibt nämlich tatsächlich ein „Überlebensgen”. Das 5-HTT-Gen reguliert den Serotoninspiegel im Zentralnervensystem; Serotonin gilt als „Selbstwert-hormon” (es macht, dass wir uns gut fühlen). In drei Varianten existiert dieses Gen in jedem von uns: 32 Prozent aller Menschen tragen die „belastbare” Version in sich (das „Überlebensgen”), 17 Prozent diejenige, die anfällig macht für Stress. 51 Prozent haben eine Mischung aus beidem – damit aber immer noch ein leicht erhöhtes Risiko, nach Tiefschlägen im Leben depressiv zu werden.
Was können wir selbst tun für unser Überleben? Auch eine positive Einstellung zum Leben steigert die Belastbarkeit, fand der New Yorker Mediziner Dennis Charney heraus: So haben Studien zufolge optimistische Krebs- und Herzpatienten bessere Überlebensraten. Ben Sherwood, der mit zahlreichen Opfern von Katastrophen sprach, ist sich sicher, dass Überleben im Kopf beginnt: „Überlebende sind keine Superhelden, die jede Widrigkeit des Lebens besiegen . . . Sie sind ganz gewöhnliche Menschen. Gemeinsam ist ihnen eine bestimmte geistige Haltung, aber sie haben nicht alle dieselbe Persönlichkeit.”
Der Soziologe David Phillips analysierte die Todesdaten von 1333 berühmten Persönlichkeiten und stellte fest, dass sie seltener als der Durchschnitt kurz vor ihrem Geburtstag starben – aber umso häufiger recht kurz danach. Auch Unberühmtheiten gelingt offenbar ein Hinauszögern ihres Todes: Phillips fand heraus, dass in den USA seit 100 Jahren kurz vor Präsidentenwahlen vergleichsweise weniger Menschen starben als durchschnittlich, kurz danach aber mehr. Um religiöse Feiertage herum wiederholte sich ihm zufolge dieses Muster. Er glaubt: „Menschen zögern ihren Tod heraus, um an sozialen Zeremonien teilzunehmen.” Überleben als Willensfrage: Dass ich das noch erleben darf . . .!
Amanda Ripley: Survive. Katastrophen – wer sie überlebt und warum. Scherz Verlag, 352 Seiten, 14,95 Euro
Ben Sherwood: Wer überlebt? Warum manche Menschen in Grenzsituationen überleben, andere nicht. Riemann Verlag, 480 Seiten, 21 Euro