Joachim Gauck gab einer Institution seinen Namen. Nun hat der Pfarrer aus Rostock ein Buch geschrieben, der von sich selbst sagt: "Ich bin ein linker liberaler Konservativer."

Joachim Gauck, ehemaliger Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Foto: ddp
Joachim Gauck, ehemaliger Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Foto: ddp © ddp

Die Behörde hat Schnupfen. Das ist natürlich Unfug: Die Ex-Behörde müsste es ja heißen! Im Jahr 2000 verließ Joachim Gauck den Arbeitsplatz, dem er einen Namen gab. Seinen langen Weg zu den Stasi-Unterlagen und den weit kürzeren weg davon beschreibt er in seinen Erinnerungen an ein Leben, in dem der Osten die Liebe war und der Westen die Geliebte.

Die Wiege des Joachim Gauck stand nicht im Aktenkeller, sondern 1940 im ländlichen Mecklenburg. Er wuchs auf bei Großmutter Antonie, seinen Tanten, seiner Mutter: Als der Vater „abgeholt” wurde 1951, willkürlich und nach Sibirien, sah der kleine Joachim „immerzu die Lüge hinter allem”. Der Vater kam wieder und behauptete, nun könnten ihm die Kommunisten nichts mehr anhaben – vielleicht war es dieses starke Wort, überlegt Gauck heute, dass ihn stets zum Bleiben bewog.

Gauck wurde Pfarrer mit Herzblut

Trotzdem: Vor der Mauer machte er lange Reisen in den Westen, bummelte 1955 durch Paris, radelte 1956 durch Norddeutschland – hinter der Mauer fühlte er sich gefangen. Wenige Tage zuvor hatten er und Ehefrau Hansi eine Wohnung im Westen abgelehnt. Nun wurden sie provinziell, zwangsläufig: „Wir überhöhten das Erreichbare, um die Trauer über das Unerreichbare nicht zu verspüren.”

Joachim Gauck wurde Pfarrer, mit Herzblut, das noch aus jeder Buchseite fließt: „Männer meines Alters fürchten sich normalerweise vor Gefühlen, das tue ich nicht.” Er lacht, das kantige Kinn wird weicher. Die Gefühle, sie ereilten ihn wieder, als er von der Ausreise seiner Kinder schrieb: 1984 stellten die Söhne Christian und Martin den Ausreiseantrag. Fast vier Jahre mussten sie warten, bis sie gehen durften. „Am Heiligen Abend 1987 fehlten zwei Kinder, zwei Schwiegertöchter, drei Enkelkinder.” Es blieben die Töchter Katharina und Gesine, aber nicht lange: Gesine folgte im Sommer 1989 einem jungen Mann in den Westen.

Beim Bündnis 90 kannte ihn niemand

Im Herbst 1989 stand nicht nur der Pfarrer auf der Kanzel der Rostocker Marienkirche – sondern auch der Familienvater. An „Menschen über Menschen, die einfach weglaufen” erinnert er, bei allem Verständnis und mit aller Wut, und dann liefen sie in eine andere Richtung: zum Gebäude der Staatssicherheit in der August-Bebel-Straße.

Wie nah er den Stasi-Aktenbergen noch kommen würde, Bergen aus allen Städten der DDR, ahnte er nicht. Seine Karriere begann mit dem Unbekanntsein: „Ich kam aus Rostock, war Realo, hatte zwar die Leute hinter mir – aber in der Fraktion von Bündnis 90 kannte mich niemand. Da kam ich in den Innenausschuss, da wollte keiner so richtig hin.”

"Schlussstrich dient immer nur den Mächtigen"

Wie sehen die Aktenberge im Rückspiegel aus? Es sei richtig gewesen, „dass wir die Interessen der Unterdrückten wichtiger genommen haben als die der Unterdrücker” – ein „Schlussstrich” diene immer nur den Mächtigen. „Falsch war, dass wir nur die Staatssicherheit in den Fokus gestellt haben. Die war Auftragnehmer. Wir haben versäumt, die Verantwortlichen der SED mit den Stasis gleichzustellen. Die springen zum Teil ja munter in unseren Parlamenten herum.” Dass nun die Linkspartei auch im Westen erstarke, mache ihn „traurig”: „Die Linke kann ich nicht Ernst nehmen, weil sie so tut, als gäbe es eine Form von Freiheit, in der risikolos nur Glück herrscht.”

Nach zehn Jahren Gauck-Behörde waren zwei Amtszeiten um – und die Avancen, man könne das Gesetz doch ändern, lehnte der Demokratie-Gläubige ab: „Das ist nicht mein Verständnis von Rechtsstaat.” Heute ist er Vorsitzender des Vereins „Für Demokratie – gegen Vergessen” – ein überparteilicher Verein, das kam ihm gelegen. „Ich bin ein linker liberaler Konservativer”, sagt Gauck: „Wenn ich 2000 jünger gewesen wäre oder übermütiger, hätte ich vielleicht gesagt, gründen wir mal die einzig richtige Partei.” Den Namen dürfen Sie raten.

Was bleibt, wenn man die westliche Geliebte heiratet? Freude über „Demokratie, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit”. Und eine „Sehnsucht nach der Sehnsucht”.