Über Monate litt Hannelore Kraft darunter, dass ihr nach fast jeder Mahlzeit schlecht wurde. Jetzt steht fest: Die nordrhein-westfälische SPD-Chefin hat Zöliakie - eine weit verbreitete Gluten-Unverträglichkeit
Essen. Das Schlimmste war die Unsicherheit, die Ungewissheit. Ist es das Fett? Sind es scharfe Gewürze? Oder liegt es am Dauer-Stress? Hannelore Kraft überlegte vor jeder Mahlzeit, wie es ihr nachher wohl gehen würde. Meistens sehr schlecht. Oft war ihr speiübel, der Magen und der Darm rebellierten. "Ich hatte das Gefühl, dass der ganze Körper auseinandergeht." Mit der Folge, dass sie "oft nur noch die Salatblätter vom Rand aß". Kein Arzt hatte eine schlüssige Erklärung. Lange zuvor hatten die Mediziner einen Eisenmangel diagnostiziert - die SPD-Politikerin bekam die passenden Medikamente. Aber auch das half nicht.
Irgendwann ließ sie auch die Eisen-Pillen weg. Schlimmer konnte es ohnehin nicht mehr werden. Dutzende Termine, bis spät in die Nacht - es kam vor, dass sie nicht sicher war, ob sie ihre Rede zu Ende bringen würde. Aber auch jetzt wurde es nicht besser. Kurz vor Weihnachten 2007 zog sie die Reißleine. "Ich beschloss, der Krankheit endgültig auf den Grund zu gehen."
Ein sogenanntes großes Blutbild ergab einen ersten Verdacht: der Magen oder der Darm. Ab in den Kernspintomographen, als nächstes eine Magenspiegelung. Ohne Befund. Hannelore Kraft nutzte nahezu jede freie Minute, um auch im Internet zu forschen. Das war eine gute Idee. Denn irgendwann landete sie auf der Homepage der ihr vorher unbekannten Gesellschaft für Zöliakie (DZG). Es dauerte nur wenige Lektüre-Minuten, bis sie wusste: "Bingo, das ist es - ich habe es gefunden."
Der Fund bedeutete eine doppelte Erleichterung. Endlich hatte die quälende Ungewissheit ein Ende, endlich konnte sie gegensteuern. Hannelore Kraft leidet an der schlimmsten Stufe von Zölikaie, auch Sprue genannt - eine genetisch bedingte Erkrankung der Dünndarm-Schleimhaut aufgrund einer Gluten-Unverträglichkeit. Das Kleber-Eiweiß Gluten kommt in nahezu allen Getreidesorten vor, als Geschmacksverstärker sogar in mehr als 90 Prozent aller Lebensmittel. Zöliakie ist eine Erkrankung, gegen die man mit Medikamenten nichts ausrichten kann. Gegen Zöliakie hilft einzig und allein eine Diät. "Für mich ist zwar der Großteil der Supermarkt-Angebote tabu", betont die 46-jährige Oppositionsführerin. "Aber ich bin sehr froh, dass ich es weiß. Ich liebe Essen, und es ist ein tolles Gefühl, dass ich wieder gezielt zugreifen kann."
Aber mit Vorsicht. Gemüse ist kein Problem, ebenso wenig Obst oder ein Steak. Ansonsten greift die verheiratete Mutter eines Sohnes auf spezielle Nahrung zurück. Und die hat ihren Preis. Eine kleine Packung glutenfreier Nudeln kostet ebenso rund vier Euro wie das Spezialbrot, das Hannelore Kraft in einer Backfiliale in ihrer Heimatstadt Mülheim regelmäßig vorbestellt. "Wer arm ist, hat es bei Zöliakie schwer", unterstreicht die Sozialdemokratin. Deswegen will sie sich dafür einsetzen, dass Zöliakie- und andere Patienten mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten ihre speziellen Nahrungsmittel steuerlich absetzen können. Das wird viele Betroffene freuen, denn Gluten-Unverträglichkeit ist eine weit verbreitete Krankheit: Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass jeder 250. Deutsche davon betroffen ist. Viele von ihnen wissen allerdings noch nichts davon - es gibt bislang nur wenig Ärzte, die bei entsprechenden Merkmalen auf Zöliakie untersuchen. In Skandinavien, vor allem in Finnland, ist die Krankheit weit verbreiteter: Dort liegt die Häufigkeit bei 1 zu 100. Die Gründe sind noch unklar. Dieser Umstand macht Skandinavien für Zöliakie-Patienten zu einem äußerst attraktiven Reiseziel: In nahezu allen Restaurants beziehungsweise Supermärkten gibt es Hinweise auf glutenfreie Speisen. Wer hierzulande noch unsicher ist oder Alltags-Probleme hat, ist auf den Internet-Seiten der DZG bestens aufgehoben: Fachleute geben Tipps über "Urlaub mit Zöliakie" und klären die Fragen, ob es glutenfreie Hostien gibt oder ob Chio-Chips akzeptabel sind.
Hannelore Kraft hat ihren kulinarischen Frieden wiedergefunden. In Restaurants muss sie häufig nachfragen; mit den Köchen in der Landtagskantine gibt es eine Absprache über mittägliche und glutenfreie Angebote; daheim kümmert sich ihr Mann um das perfekte Dinner. Nie ohne mein Brot, lautete ihre Devise auf Dienstreisen. "Ich mache wenig Fehler, es geht mir super. Ich bin von 75 auf 100 Prozent Leistungsfähigkeit geklettert." Sie hat sich daran gewöhnt, zum Kaffee ihren Spezial-Florentiner mitzubringen. Vermisst sie denn gar nichts? "Oh doch", betont sie, "ich würde liebend gerne mal wieder in der nächsten Eisdiele ein Eis essen." Ausgeschlossen - und zwar auf Dauer.