Washington. Barack Obamas Rede über Rasse und Rassismus in Amerika lässt die Zuhörer weinen und die Leitartikler jubeln: „Lincoln, Roosevelt, Kennedy, Obama”.

Auf dem Programm stand das Übliche: Dementieren und distanzieren, klarstellen und abstreiten, den Freund fallen lassen und dann rasch zum Gegenangriff übergehen. Blieb Barack Obama überhaupt noch eine andere Wahl, nachdem ihn die aggressiven Sprüche aus der Predigtsammlung seines Pastors Jeremiah Wright dermaßen in die Defensive getrieben hatten?

Doch zum Erstaunen des politischen Publikums verweigerte sich Obama dem Ritual amerikanischer Wahlkämpfer, peinlich gewordene Freunde zu verstoßen. Statt dessen hielt Obama eine unerhört offene Rede über Rasse und Rassismus in Amerika. Eine Rede, die von den Zuhörern mit Beifall und Tränen, von den Leitartiklern mit dem Prädikat „historisch” bedacht wurde.

Seit einer Woche kennt ganz Amerika den inzwischen pensionierten Pastor der Trinity Church in Chicago, einer freikirchlichen Christengemeinde, in der prominente Schwarze wie Barack Obama und Oprah Winfrey zuhause sind. Archivaufnahmen zeigen Wright, der die Obamas getraut hat und als enger Freund und Mentor des Präsidentschaftskandidaten gilt, wie er auf der Kanzel tobt und flucht, wie er den Himmel anfleht, dieses Amerika nicht etwa zu schützen, sondern seines Rassismus wegen zu verdammen: „God damn America!” schreit Wright, und die – ausschließlich schwarze – Gemeinde jubelt.

Präsidentschaftskandidaten, die solche Freunde haben, brauchen keine Feinde mehr. Dennoch widerstand Obama der Versuchung, Wright nun einfach in die Ecke der Dummen und Hässlichen zu stellen. Stattdessen sagte er etwas ganz Ungewöhnliches und Persönliches: „Ich kann mich von Pastor Wright genauso wenig lossagen wie von der Black Community. Ich kann mich von ihm so wenig lossagen wie von meiner eigenen weißen Großmutter, (...) einer Frau, die mir einmal gestanden hat, dass sie jedesmal Angst hat, wenn ein schwarzer Mann auf der Straße an ihr vorbeigeht, eine Frau, die mehr als einmal rassistische Vorurteile geäußert hat.” Natürlich stellte Obama klar, dass er weder mit Pastor Wright noch mit seiner Großmutter übereinstimmt.

Aber wichtiger war, dass er niemanden verteufelte, sondern Verständnis für die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Empfindungen zwischen Schwarzen und Weißen äußerte. Es sind Erfahrungen, die ohnehin jeder Amerikaner aus dem eigenen Leben kennt, die aber politisch totgeschwiegen werden. Obama dagegen ging in diesem verminten Gelände sogar so weit, Verständnis für Weiße zu äußern, die sich benachteiligt fühlen: „Die meisten weißen Arbeiter- und Mittelschicht-Familien haben nicht das Gefühl, dass sie durch ihre Hautfarbe privilegiert sind.” Im Gegenteil, sie hätten manchmal das Gefühl, dass ein Schwarzer wegen der Sünden der Vergangenheit nun bevorzugt würde.

Es habe keinen Sinn, so Obama, diese Gefühle „wegzuwünschen”. Man müsse sie verstehen und die „berechtigten Sorgen” auch der Weißen erkennen. Die Schwarzen rief er auf, „nicht in Verzweiflung und Zynismus” zu verfallen, sondern die „Erstarrung” im Verhältnis der Rassen zu überwinden. Die Reaktionen auf Obamas Rede waren schon im Publikum in Philadelphia extrem: Viele Schwarze fingen an zu weinen, als Obama von seiner Familie und seinen eigenen Erfahrungen als Schwarzer in den USA erzählte. Wohlmeinende Sonntagsreden zum Thema Rasse kennen alle Amerikaner; doch Obamas Offenheit ging weit darüber hinaus, und einmal mehr zeigte sich, dass er durch seine Biografie und Persönlichkeit mehr Glaubwürdigkeit genießt. „Es ist schwer vorstellbar, wie er es besser hätte machen können”, schrieb die New York Times in einem euphorischen Leitartikel.

Obwohl die Zeitung offiziell Hillary Clinton unterstützt hat, beschrieben die Kommentatoren die Rede als bedeutenden Moment in der amerikanischen Geschichte. Obama nannten sie in einem Atemzug mit den großen Präsidenten Lincoln, Franklin Roosevelt und Kennedy. Martin Medhurst, ein Rhetorik-Professor, der vor allem die Reden berühmter Präsidenten erforscht hat, war überzeugt, dass er ein neues Forschungsobjekt gefunden hat: „Wenn Obama Präsident wird, wird man auf diese Rede zurückblicken und sagen, dass sie ein wichtiger Baustein seiner Präsidentschaft war.”

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