Duisburg. Spektakuläre Fälle wie der „Pokémon-Mord” gehen in die Kriminalgeschichte ein. Die Opfer werden schnell vergessen. Ein Besuch bei Sadettin A., der vor sieben Jahren seinen Sohn verlor – und beinahe daran zerbrach.
In der Tür steht eine hübsche 15-Jährige mit riesengroßen Augen. Sie ist sehr gut in der Schule, berichtet Vater Sadettin A. und blickt mit liebevollem Stolz auf sein jüngstes Kind Sibell. Und doch schwingt immer wieder tiefe Trauer bei dem heute 56-jährigen Chemiearbeiter aus Duisburg-Homberg mit: Ihr Bruder Sedat wäre heute ein Jahr älter als sie, hätte ihn nicht an jenem 9. Januar 2001 Oliver S. umgebracht, weil er einmal wissen wollte, wie es ist, wenn er ein Kind tötet.
Stirbt ein Kind, ist dies bitter, wird es Opfer eines Unfalls, schmerzt das noch tiefer, aber „verliert man ein Kind durch eine solche Grausamkeit, dann kann man damit kaum weiter leben”. Sadettin A. wollte schon einmal seinem Leben ein Ende setzen, aber da habe ihm sein Verantwortungsgefühl dem jüngsten Kind gegenüber diese letzte Entscheidung abgenommen.
Seine Kollegen im Chemiewerk halfen ihm „damals” so gut sie konnten. Sie übertrugen ihm sogar von ihren eigenen Arbeitszeitkonten viele Stunden, damit er Zeit hatte, Abstand zu gewinnen, zu trauern. Sein neunjähriger Sohn war von Oliver S. mit den sogenannten Pokémon-Bildchen, der Sammelleidenschaft des Kleinen, in die Wohnung gelockt worden, die keinen Steinwurf weit vom Haus der Familie A. entfernt lag.
Mittäterin auf freiem Fuß
Die zerstückelte Leiche des Kindes fand man einen Tag später neben einem Altkleidercontainer in einem Koffer. Im Mai 2001 wurde Oliver S. zu 14 Jahren Haft verurteilt. Die am Mord beteiligte Freundin kam mit sechseinhalb Jahren davon, ist inzwischen längst wieder auf freiem Fuß.
Das grausame Geschehen an dem gerade erst neunjährigen Sedat sollte später als „Pokémon-Mord” in die Kriminalgeschichte eingehen.
„Unbekannte aus der Türkei haben mich damals aufgefordert, das Ganze als politische Tat hin zu stellen. Zu sagen, dass wären ausländerfeindliche Glatzen gewesen, die mein Kind umgebracht haben,” schüttelt Sadettin A. heute noch den Kopf. Man wollte Sedats Tod politisch benutzen, erkennt der inzwischen deutsche Familienvater. „Das habe ich nicht mitgemacht, das war unglaublich.”
2000 wurde die Ehe zwischen Sadettin und Emine A. geschieden. Die vier Kinder kommen zum Vater. Man steckt in jenen Januartagen mitten in Renovierungsarbeiten und im Umzug. Die Familie will die Wohnung an der Franzstraße verlassen und in eine andere Gegend in Duisburg ziehen. Dann verschwindet plötzlich der kleine Sedat.
Fassungslos zeigt der 56-Jährige einen vom vielen Lesen inzwischen ziemlich zerknitterten Leserbrief eines Mannes. Darin wird unterschwellig dem Vater ein Mitverschulden am Tod des Kindes vorgeworfen, er soll sich nicht genug um seine Kinder gekümmert haben.
„Das stimmt nicht, alle meine Kinder sind verantwortungsvoll und auch streng erzogen worden. Sedat wäre nie mit einem Fremden mitgegangen – aber er kannte den jungen Mann aus der Nachbarschaft. Er war für ihn kein Fremder.”
Hilfe ist ausgeblieben
Durch den Tod des Kindes vollkommen aus der Bahn geworfen, gab der Chemiearbeiter viel mehr Geld aus, als er hatte. So erkennt er es heute. „Die Banken zeigten sich voller Mitleid und gaben mir immer wieder Geld.” Doch Betäubungsversuche per Kaufrausch scheiterten. Heute drücken ihn gut 50.000 Euro Schulden. Und Sadettin A. ist krank – ein Herzinfarkt legt ihn seit Wochen still. Nur noch etwas mehr als 900 Euro Krankengeld bekommt er, das reiche vorne und hinten nicht. Auch die ärztlich angeratene vorzeitige Erwerbsunfähigkeitsrente wäre viel zu wenig. Sein Blick wandert zu Sibell.
2001 wurde ihm noch von offiziellen Stellen Hilfe zugesagt, Geldspenden, ein Gedenkstein in Homberg. Bis heute ist das alles ausgeblieben. Vergeblich gehofft hatte Sadettin A. jüngst auch auf Hilfe durch einen Lottogewinner, der ihm die 50.000 Euro vorstrecken wollte.
Mit Sibell geht er immer wieder zu Sedats Grab – die anderen Brüder Murat und Serap bleiben fern. Nur die älteste Tochter kommt hin und wieder. Sie wohnt mit ihrer Familie schließlich in Velbert, entschuldigt Sadettin. Dort lebt auch Enkel Noah, 15 Monate alt. Sadettins „kleine große Liebe”. Noah heißt mit zweitem Namen Sedat.