Essen. Die große Marilyn Horne wird 75 Jahre alt. Die Amerikanerin, deren Karriere einst in Gelsenkirchen begann, gilt vielen Experten als die größte Sängerin der Welt.

„Die größte Sängerin der Welt”: Was nach maßloser Übertreibung klingt, hat Jürgen Kesting in seinem Standardwerk über große Sänger als Überschrift für das Kapitel zu Marilyn Horne gewählt. Kenner sind sich einig: Die aus Pennsylvania stammende Amerikanerin, die am 16. Januar 75 Jahre alt wird, bleibt auf dem Feld des Belcanto ungeschlagen. Begonnen hat die Karriere der warmherzigen Frau mit den strahlend blauen Augen vor über fünfzig Jahren in Gelsenkirchen.

Im Juli 1957 reiste die 23-Jährige von Wien aus ins Revier. In eine Stadt, die geprägt war von Bergbau und Schwerindustrie, noch versehrt von Wunden des Krieges, doch schon beflügelt vom Wiederaufbau: Das neue Theater war in Planung. Noch spielte man in der Schauburg in Buer, im Hans-Sachs-Haus, an zahlreichen Abstecherorten.

Ein "Sopran von erstaunlichem Volumen und bestechendem Timbre"

1960 war Marilyn Horne in Gelsenkirchen die Marie in Bergs „Wozzeck”. 
Foto: Kurt Saurin-Sorani
1960 war Marilyn Horne in Gelsenkirchen die Marie in Bergs „Wozzeck”. Foto: Kurt Saurin-Sorani

Generalintendant Gustav Deharde hat die junge Unbekannte, die Igor Strawinsky nach Wien geholt hatte, als „Zwischenfachsängerin” engagiert. Ihre erste Rolle war die Giulietta in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen”. Ende 1957 wechselte sie mit der damaligen Primadonna, Maria Helm, als Amelia in Verdis „Simon Boccanegra”. Im gleichen Jahr realisierte Deharde ein ehrgeiziges Projekt: In Bühnenbildern des später weltberühmten Günther Schneider-Siemssen inszenierte er Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen” mit Marilyn Horne als Minnie. Von der späteren Karriere als Koloratur-Mezzosopran war noch nichts zu ahnen. Horne selbst, ihren enormen Stimmumfang bis zum hohen C nutzend, verstand sich als Sopran.

Bald wurde die überregionale Kritik auf sie aufmerksam. Zum Händel-Jahr 1959 gab es in Gelsenkirchen eine Ausgrabung, „Ezio“, mit Horne in der Rolle der Fulvia. Auch wenn sie, wie die „Westfälische Rundschau” maliziös vermerkte, „figürlich nicht immer ganz die zarte Römerin geben konnte”, wurde ihre Darstellung durchweg gelobt: ein „Sopran von erstaunlichem Volumen und bestechendem Timbre”, eine „warm strömende und dramatisch aufleuchtende” Stimme, die den figurierten Stil überzeugend traf.

Aufsehen erregender Abschluss in Gelsenkirchen

Ähnlich lauteten die Kritiken, als Marilyn Horne Tatjana in Tschaikowskys „Eugen Onegin” übernahm und 1960, schon im neuen Haus, die Mimí in Puccinis „La Bohème” gestaltete. Die WAZ bescheinigte ihr eine großartige Leistung: „Sie besitzt edles Stimmmaterial, das sie souverän einzusetzen weiß. In den großen Arien erblüht ihre Stimme zu vollem Glanz.” Ihre „Galeerenjahre“ in Gelsenkirchen schloss Horne mit einer Aufsehen erregenden Partie ab: Sie sang die Marie in Alban Bergs „Wozzeck“.

Ihre Vitalität überraschte; ihre Stimme halte auch dem schmetternden Orchester stand, meinte die „Buersche Zeitung”. Dr. Günter Engler, der kurz vor Weihnachten verstorbene damalige Feuilleton-Chef der WAZ, bewunderte ihr Temperament und ihre traumwandlerische Sicherheit: „Ein Weibsbild . . . prallvoll von Leben. Da springt wirklich der Funke über.” Und die „Rheinische Post“ wies darauf hin, dass man sich die Sängerin merken müsse.

Auf dem Olymp des Belcanto

Fünf Jahre später regierte Marilyn Horne gemeinsam mit der Sopranistin Joan Sutherland den Olymp des Belcanto. Sie brillierte mühelos mit Bellini, Rossini, Meyerbeer. Ihre Auftritte mit Montserrat Caballé gehören zu den Höhepunkten der Gesangskunst, die Duette aus Rossinis „Semiramide“, die Virtuosenstücke aus „Tancredi“ oder Meyerbeers „Le Prophète“ versetzten die Zuhörer in Taumel. Ihre Händel-Interpretationen ließen Tränen fließen.

Vor zehn Jahren, noch makellos bei Stimme, beendete Marilyn Horne ihre Opernkarriere, widmete sich ihrer Stiftung und dem Nachwuchs. Man erzählt sich, dass sie immer wieder in Gelsenkirchen auftauche, auf der Durchreise alte Kollegen besuche, in der Kantine des Theaters gesehen werde. Ihr warmes, freundliches Herz wollte sie keiner Karriere der Welt opfern.