Oberhausen hat einen neuen Intendanten, und er startet mit Klasse und Selbstbewusstsein. Das Wochenende brachte als erste Premieren Woyzeck und Tartuffe: sehr laut, sehr bunt, sehr schnell, sehr schräg. Und sehr schön

Oberhausen. Es war einmal ein tapferes kleines Theater, dem stand das sprichwörtliche Wasser bis zur Oberkante Unterlippe. Eigentlich konnte es nur noch den Sargdeckel über sich zuziehen, denn die Reputation schwächelte und der städtische Haushalt, der darüber in eine gigantische Vaterrolle geraten war, zeigte ernste Anzeichen eines Kollapses.

Und genau in dem Augenblick, als das ganze Ausmaß der Krise deutlich wurde und die Bezirksregierung einen Sparhaushalt diktierte, der alle Beteiligten das Fürchten lehrte – in diesem Augenblick musste das tapfere kleine Theater den Neuanfang wagen, mit einem neuen Intendanten. Und, was soll ich sagen – es ist großartig.

Ja, Oberhausen hat wieder ein Theater, und wenn es so bleibt wie am vergangenen Auftakt-Wochenende, dann wird es alle Beteiligten überzeugen, dass hier kein Euro verloren ist. Der neue Chef Peter Carp hat gezeigt, dass er ein Publikum begeistern kann – und zwar nicht mit Ramsch von der Unterhaltungsstange, sondern mit einem Theater, das fantastisch, frech und hoch emotional den Kampf gegen gedankenträge Langeweile aufnimmt.

Woyzeck (Jürgen Sarkiss) hat Marie getötet (anrührend: Nora Buzalka). Die Nutten sehen zu. Fotos: Tanja Dorendorf
Woyzeck (Jürgen Sarkiss) hat Marie getötet (anrührend: Nora Buzalka). Die Nutten sehen zu. Fotos: Tanja Dorendorf

Freitagabend: Start mit Büchners armem Soldaten Woyzeck. Wenn irgendeiner Gefühl und Verstand auf tragische Weise vereint, dann er. Ein gedemütigter Mensch, tieftraurig, weise, erbarmungswürdig und Furcht erregend, leidet er an der Welt und seiner Zerrissenheit. Statt sich zu wehren, tötet er sein Liebstes.

Carp hat in einem sensationellen Coup die Rechte an Tom Waits' Musical-Fassung erworben, und das ist an sich schon erschütternd. Das Stück ist 2000 in Kopenhagen uraufgeführt worden; Oberhausen ist weltweit erst die zweite Station. Zusammen mit den süchtigen Songs des alten Rockmusikers ist die Inszenierung des Calixto Bieto-Schülers Joan Anton Rechi auf der grandiosen Bühne von Martin Flores ein Erlebnis der siebten Art.

Waits bleibt nah am Original; er erzählt, wie Woyzeck sich für medizinische Experimente missbrauchen lässt, das Geld gibt er Marie, die ein Kind von ihm hat. Sie betrügt ihn, da schneidet er ihr die Kehle durch.

Auf der Bühne steht ein Bordell, und grell und bunt wie die Neonreklame sind die Figuren: glänzend gespielt, fantastsisch choreografiert. Aber die Seele des Stückes sind die Songs, rau noch in äußerster Sentimentalität. Vor allem Jürgen Sarkiss als Woyzeck hat eine schöne, warme Stimme, und wenn sie alle zusammen singen „Misery's the River of the World” (Elend ist der Lauf der Welt) dann hat Tom Waits eine Hundertschaft neuer Anhänger gewonnen. Freitag Abend: ein glänzender Start.

Klamauk und Genie

Samstag Abend: Waits und Woyzeck sind wunderbar, aber der Tartuffe von Herbert Fritsch ist spektakulär. Der Mann schreckt vor keiner Micky-Maus-Ästhetik zurück, präsentiert Unterhosen, lässt grapschen, kreischen, jaulen, Koloraturen heulen, Verse leiern und Albernheiten dudeln, bis der Schmerz höflich an die Hirnschale klopft.

Das grenzt haarscharf an Klamauk, rammt aber das Geniale. Und wenn endlich dem Gutwilligsten klar sein muss, dass dies keine eine normale Klassiker-Adaption ist (wie, bitte, soll der Schüler seinem Deutschlehrer erklären, wie der Reim „religiöse Christenmöse” ins Stück geraten ist?) dann kippt das Spiel und wird zum grandiosen Tanz der Vampire. All diese Bürger, die Herrn Tartuffe hassen, weil er auf fromm macht und mit dem schönen Schein Geld und Ansehen einstreicht – all diese Bürger, sagt Herbert Fritsch spöttisch, sind auf Eigennutz aus. Blutsauger.

Auch an diesem Abend sind alle, alle hinrei´ßend, aber Björn Gabriel als Tartuffe ist ein unübertrefflich süßer an-drogyner Vampir (an welche wahnwitzige Horror-Show denken wir da wohl?), und er schaut so fledermaus-luziferisch, so kreuzbravtreuehrlich, dass es eine Lust ist. Das Beste aber ist das Ende, das einfach hereinbricht. Sie tanzen, immer weiter, bis auch das Regieteam auf die Bühne kommt und zu wummernden Rhythmen zuckt, sie verweigern sich stampfend dem Applaus-Ritual, bis das Publikum wunde Hände hat. Ein paar zornige Buhs gab's auch.

Wunderbar tapferes kleines Theater! Und wenn es nicht kaputt gespart wird, spielt es morgen noch. Hoffentlich.