Lange galt das europäische Nacheiszeitklima als beständig und stabil. Während der letzten 10 000 Jahre, so schien es, sorgte der Golfstrom für verlässliche Milde auch in Westeuropa. ...
... Inzwischen aber stellte sich diese Warmwasserheizung als durchaus störanfällig heraus: Grönländische Eiskerne zum Beispiel bergen Hinweise, dass die Sommertemperaturen vor 9300 und noch einmal vor 8200 Jahren schlagartig abfielen. Auch das Inland der britischen Insel bekam diese Kaltphasen zu spüren, fand eine Forschergruppe um Jim Marshall von der Universität in Liverpool heraus.
Heute wachsen Dank des Golfstroms Palmen an Südenglands Küsten. Ohne die permanente Warmwasserheizung wären etwa die Elbmündung und die Nordsee monatelang vereist. Um wie viel kälter es damals plötzlich in Nordeuropa wurde, verrieten den Wissenschaftlern fossile Mücken aus der Gruppe der nicht-stechenden so genannten Chironomiden, die das Team aus dem Sediment des heutigen Haweswater-Stausee in Nordengland gesiebt hatte, wo es bis 1935 zwei natürliche Seen gab. "In jeder Probe haben wir Reste von mehr als 30 Arten gefunden", sagt der Geowissenschaftler. Die sommerlichen Plagegeister reagieren äußerst klimasensibel: Bei bestimmten Temperaturen leben nur ganz bestimmte Arten.
Die Wissenschaftler verglichen die Mückengemeinschaften aus der Vergangenheit mit denen aus heutigen Seen in Skandinavien. "So können wir die Temperaturen während der Lebenszeit der Mücken bis auf ein Grad Celsius genau abschätzen." Diese sanken im Juli der nacheiszeitlichen Kältejahre jeweils um 1,6 Grad, schreiben die Forscher in der Juli-Ausgabe vom Fachmagazin Geology - ein dramatischer Temperatursturz.
Modellrechnungen bringen die damaligen Kälteeinbrüche mit einer Abkühlung und gleichzeitigen Aussüßung der Oberflächenwässer im Nordostatlantik in Verbindung - vermutlich verursacht durch abrupten Süßwassereintrag durch die Schmelze der sich zurückziehenden nördlichen Eisschilde. "Zunächst sammelte sich das Schmelzwasser in einem gewaltigen Eisstausee hinter den letzten Resten vom Nordamerikanischen Eisschild", sagt Stefan Mulitza vom Bremer Forschungszentrum Ozeanränder. "Bricht die Barriere, gelangen plötzlich ungeheure Mengen Süßwasser in den Ozean." Ein Frontalangriff auf den Nordausläufer des Golfstroms, der Europa warm und feucht hält.
Vor etwa drei Millionen Jahren verschloss eine Landbrücke das Meer zwischen Nord- und Südamerika. Schwappten tropische Oberflächenwässer vorher frei zwischen Atlantik und Pazifik hin und her, fließen sie seither vom Golf von Mexiko entlang der nordamerikanischen Westküste bis in die Labrador-See zwischen Neufundland und Grönland. Von hier nehmen sie Kurs auf Europa. Auf dem Weg gen Norden verdunstet ein Teil des Wassers, und es kühlt ab, Salzgehalt und Dichte klettern. Im Nordatlantik "fällt" das schwere Wasser in die Tiefe und strömt zurück gen Süden.
"Ergießt sich ein Schmelzwassersee genau dort ins Meer, wo sich das Tiefenwasser bildet, schwächt das den nordatlantischen Arm der Umwälzpumpe und den Wärmetransport", erklärt Mulitza. In Europa wird es somit unweigerlich kühler. "Die Mücken belegen, dass Europa dies in den letzten 10 000 Jahren mindestens zweimal durchlebt hat", sagt Marshall.
Ob dies erneut passieren kann? Eine Vorhersage für die Zukunft wagt Mulitza nicht. Und hierin ist sich die Wissenschaft generell uneins. Zwischen 1950 und 2004 habe sich die nach Süden zurückströmende Wassermenge um ein Drittel verringert, schrieben Wissenschaftler um Harry Bryden vom National Oceaonography Centre in Southampton 2005 in der Fachzeitschrift Nature, reduzierten die Angaben später aber auf maximal zehn Prozent. Forscher des Hamburger Max- Planck-Instituts für Meteorologie errechneten, dass sich der Strom bis 2100 sogar um 40 Prozent verlangsamt. Im 22. Jahrhundert jedoch würde er sich wieder erholen.
Auch zu den möglichen Folgen gibt es verschiedene Szenarien. "Schlimm könnte es die Tropengebiete in Afrika treffen", vermutet Mulitza. Zum Beispiel die Sahel-Zone - ein schmales Trockengebiet südlich der Sahara. Schon jetzt ist die Verdunstungsrate jährlich für mindestens sechs Monate höher als der Niederschlag. Ein schwächelnder Nordatlantikstrom könnte die Niederschlagsverteilung so verändern, dass sich die Wüste weiter nach Süden ausdehnt. "In den siebziger und achtziger Jahren sind hier aufgrund von Trockenheit etwa eine Million Menschen verhungert. Hierfür waren womöglich auch Änderungen der Meeresströmungen die Ursache. Da müssen wir noch viel genauer hinsehen."