Essen. Die Sütterlin-Schrift wird nicht mehr unterrichtet, nicht mehr gedruckt, nicht mehr gefördert. Und doch ist sie lebendig im Herzen vieler Menschen – und mehr noch in ihren Händen.

„Man kriegt etwas verboten, von jemandem, den man nicht will!” Doris Hesse (80) kann heute noch das Gefühl beschreiben, das sie als 16-jähriges Mädchen trotzig hat an der Sütterlinschrift festhalten lassen, obwohl die „Judenlettern” gerade zu Gunsten der Normal-Schrift durch die Nazis verboten worden waren.

„Meine Familie lebte in Münster, wo man sich ohnehin erst nicht um die neue Vorschrift gekümmert hat. Unser Lehrer hatte den Erlass ganz einfach nicht weitergegeben, so dass wir auch nach 1941 noch Sütterlin schrieben.” Bis heute hat Doris Hesse, die durch ihre Heirat nach Oberhausen kam und dort bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin an einer kaufmännischen Berufs- und Berufsfachschule tätig war, „das Sütterlin” nicht aufgegeben.

Eva Avenhaus

Eva Avenhaus. (Fotos: WAZ, Matthias Graben)
Eva Avenhaus. (Fotos: WAZ, Matthias Graben) © WAZ

Ganz unerwartet kamen die Sütterlin-Kenntnisse von Eva Avenhaus zu ungeahnten Ehren. Die Bochumerin, die nach ihrer Einschulung 1940 ein Jahr lang Sütterlin gelernt hat, erhielt sich ihre Kenntnisse vornehmlich durch das Lesen alter Bücher. Nach ihrem Philologiestudium kam das Angebot, ein Jahr lang als Sprachenassistentin am Holloway-College, südwestlich von London, nicht weit entfernt von Windsor, zu arbeiten. „Gleich zu Beginn meines Aufenthaltes”, erinnert sich Eva Avenhaus, „bat mich eine Historikerin um privaten Deutschunterricht. Sie arbeitete in den Archiven von Schloss Windsor und hatte die Aufgabe, die Korrespondenz des englischen Königshauses mit der deutschen Verwandtschaft zu katalogisieren.”

Als sie beklagte, dass die „Verwandten ja leider diese merkwürdige altmodische Schriftart verwendet hätten”, konnte der Frau geholfen werden. Eva Avenhaus: „So wurde ich Lehrerin für Sütterlin zu Nutzen und Frommen des englischen Königshauses!”

Willy Birkemeyer

Einer die Welt umspannenden Gemeinschaft von Menschen, die sich in Sütterlin schreiben, gehört Willy Birkemeyer (80) aus Herne an. Der ehemalige Bergbauingenieur schätzt diesen Kreis sehr, den in Deutschland Rolf Husemann organisiert. Der Förster aus Gevenich in Rheinland-Pfalz ( 02678/1430), so erklärt Birkemeyer dessen Engagement, findet die Sütterlinschrift einfach erhaltenswert.

Margret Schröter

Margret Schröter wurde 1939 eingeschult. „Ich habe diese Schrift natürlich gelernt. Und als ich sie gerade konnte, sollten wir sie vergessen und die lateinische Schrift lernen.” Später, so erinnert sie sich, kam dann gelegentlich Post von ihrer Großmutter oder von einem Onkel, die sie der Familie vorlesen musste, weil niemand sonst mehr Sütterlin gelernt hatte. „Auch unser alter Hausarzt schrieb seine Rezepte in Sütterlin, und in der Apotheke konnte sie niemand mehr lesen.” Sie selbst wundert sich, dass sie auch heute noch ohne langes Überlegen Sütterlin ganz flüssig schreiben kann. „Sofern man wegen des spitzen und steilen Schriftbildes von flüssig reden kann.”

Werner Bolder

Ohne „himmlischen Beistand”, ist der Oer-Erkenschwicker Werner Bolder (68) überzeugt, hätte er seine ersten Kontakte mit der Sütterlinschrift nicht schadlos überstanden. Der Landesvorsitzende der nordrhein-westfälischen Kleingärtner hatte während seiner Schulzeit in Recklinghausen kein Sütterlin mehr auf dem Stundenplan stehen, „doch unser Pfarrer schrieb natürlich noch diese deutsche Schrift.” Für den angehenden Messdiener eine Katastrophe. Seinen ersten Dienst am Altar hätte er deshalb sogar beinahe verpasst: „Im Dienstplan fand ich immer nur einen Lolder, denn das Sütterlin-L ist ja dem lateinischen B zum Verwechseln ähnlich.”

Robert-Günter Schmid

Eine Schrift und ihre Geschichte

Weil die bis dahin gebräuchliche Kurrentschrift mit der Feder recht schwer zu schreiben war und weil verschiedene Formen üblich waren, entwickelte der Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin (1865-1917) im Auftrag des Schulministeriums 1911 eine einfachere Variante: die später so genannte Sütterlinschrift. Sie wurde ab 1915 an preußischen und von 1935 bis 1941 an allen deutschen Schulen unterrichtet. Mit der Begründung, Juden hätten die als gotisch bezeichneten Kurrentschriften verbreitet, wurde auch Sütterlin verboten. An Schulen durfte nur noch die lateinische Schrift unterrichtet werden. Letztlich war die Umstellung von „gebrochenen” Lettern auf „runde” auch eine Anpassung an das international gebräuchliche System. Nach dem Zweiten Weltkrieg lehrten nur noch vereinzelte Schulen in einigen Bundesländern Sütterlin wieder als zweite Schrift.

Robert-Günter Schmid (77) hat Sütterlin „ein oder zwei Jahre” in der Schule gelernt. „Dann kam die lateinische Schrift und das, was man eine Sauklaue nennt”, räumt der Bochumer lachend ein. „Wer Sütterlin schreibt”, so seine Erfahrung, „kann nämlich nicht schmieren.” Lange schrieb er ein Gemisch, das – in Verbindung mit der „entgleisten” Handschrift – selbst so wichtige Schriftstücke wie die Liebesbriefe an seine zukünftige Frau schier unleserlich machte. Da musste die Schwiegermutter in spe sogar beim Vorlesen helfen, erinnert sich Ehefrau Renate schmunzelnd, die damals kein Sütterlin beherrschte und den Rest schlicht nicht entziffern konnte.

Johannes van Büren

Bis ins fünfte Schuljahr hinein hat Johannes van Brünen Sütterlin geschrieben und gelesen. Die Umstellung „zum Lateinischen” fiel ihm ungeheuer schwer. „Wo es nicht so klappte, wie sich der Lehrer das vorstellte, gab es Strafarbeiten, zu verfassen in Latein. Daran haben wir Stunden gesessen”, erinnert sich der Duisburger noch heute. Und an seine erste Feder, mit der er das Schreiben geübt hat: „Eine Sütterlin F 4.”