Bochum. . Ab Mitte des 19. Jahrhunderts folgten Unternehmer-Pioniere wie Krupp, Stinnes und Haniel auf preußische Beamte. Das wirkt sich bis heute aus.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts treiben Unternehmer wie Krupp, Stinnes und Haniel die Industrialisierung im Ruhrgebiet voran. Wie die frühen Jahre des Bergbaus die Region noch heute prägen, erläutert der Historiker Michael Farrenkopf im Gespräch mit Ulf Meinke. Farrenkopf ist seit 2001 Leiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums (montan.dok) in Bochum.
Herr Farrenkopf, in diesem Jahr endet der Steinkohlenbergbau in Deutschland und damit auch im Ruhrgebiet. Lassen Sie uns auf die Anfänge zurückblicken. Was halten Sie von Sagen wie der Geschichte vom Hirtenjungen, der eines Morgens entdeckt, dass die Steine seiner Feuerstelle brennen – und so angeblich die Kohle entdeckt hat?
Farrenkopf: Die Sage von den glühenden Steinen fasst Erfahrungswissen zusammen – Erlebnisse, die Menschen gemacht haben. Vor der Industrialisierung ist das Ruhrgebiet eine ländlich geprägte Region, an deren Oberfläche Steinkohle zu finden ist. Dass Menschen Erfahrung mit Kohle sammeln und darüber Geschichten erzählen, ist also naheliegend.
Seit wann wird Kohle im Ruhrgebiet genutzt?
Farrenkopf: Die ersten Belege gibt es aus dem Hochmittelalter. In schriftlichen Aufzeichnungen aus dem 13. Jahrhundert ist beispielsweise von Kohlengräbern die Rede. Möglicherweise haben die Menschen im Ruhrgebiet aber schon viel früher Kohle eingesetzt, um Feuer zu machen. Noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein, also in der Anfangsphase der Industrialisierung, ist Kohle übrigens ein reiner Brennstoff, vor allem um Dampfmaschinen zu befeuern.
Wann wird die Kohle zum Wirtschaftsfaktor?
Farrenkopf: Ein wichtiges Datum ist das Jahr 1865, ab dann gilt das Allgemeine Berggesetz für die Preußischen Staaten. Das Berggesetz überführt den Bergbau aus einer staatlichen in eine privatwirtschaftliche Leitung. Damit ist im Ruhrgebiet der Startschuss für den Abbau von Steinkohle im großen Stil verbunden. Unternehmer wie Alfred Krupp, Hugo Stinnes, Franz und Hugo Haniel oder der irische Unternehmer William Thomas Mulvany treten auf den Plan. Eine enorme Dynamik entsteht.
Der Bergbau wird privatisiert?
Farrenkopf: Ja, genau. Bis 1865 ist der König der oberste Bergherr. Preußische Beamte wachen über Löhne, Schichten, Technik und Arbeitssicherheit. Es gilt das sogenannte Direktionsprinzip. Danach folgt eine Phase der massiven Liberalisierung. Unternehmer wie Krupp, Haniel und Stinnes sind dabei Innovatoren. Sie schalten gewissermaßen den Turbo an. Der Bedarf an Arbeitskräften steigt erheblich. 1865 sind rund 42.000 Menschen im Bergbau beschäftigt, im Jahr 1900 sind es schon fast 229.000. Der historische Höchststand wird 1922 mit fast 577.000 Beschäftigten erreicht.
Welche technologischen Innovationen gibt es?
Farrenkopf: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird Kohle im Stollenbergbau gewonnen. Beispielsweise auf der Zeche Nachtigall in Witten, die heute ein Museum ist. Die erforderliche Technik ist vergleichsweise einfach und aus dem Erzbergbau bekannt. Viele Flöze befinden sich entlang der Ruhr. Die entscheidende Weiterentwicklung kommt in den 1830er-Jahren durch Haniel, der in der Lage ist, Tiefbauschächte zu errichten, etwa um 1836 entstandenen Schacht Kronprinz in Essen. Der Übergang vom Stollenbergbau zum Tiefbau ist technisch-historisch ein ganz wichtiger Schritt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird im Ruhrgebiet in bis zu 600 Metern Tiefe gearbeitet, ein halbes Jahrhundert später sind es Tiefen zwischen 700 und 900 Metern. Zum Vergleich: Das Bergwerk Prosper Haniel, das Ende 2018 schließt, erreicht Tiefen bis zu 1300 Metern.
Ist das Ruhrgebiet in Sachen Industrialisierung ein Vorreiter in Europa?
Farrenkopf: England ist im 19. Jahrhundert viel weiter. Im Ruhrgebiet wird beispielsweise vergleichsweise spät erkannt, wie Kohle nicht nur als Brennstoff, sondern auch in der Eisen- und Stahlindustrie zum Einsatz kommen kann. Hierfür muss Kohle in Koks umgewandelt werden. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wird im Ruhrgebiet Koks im Hochofen verwendet, um Roheisen und Stahl zu erzeugen.
Gibt es ein besonderes Merkmal des Ruhrgebiets?
Farrenkopf: In der Hochindustrialisierung entwickeln sich im Ruhrgebiet breit aufgestellte Montan-Konzerne. Die Konzerne agieren entlang der gesamten Wertschöpfungskette und diversifizieren sich: Die Bergwerksunternehmen fördern nicht nur Kohle, sondern stellen auch Eisen und Stahl her – Stahlunternehmer wie Krupp wiederum betreiben eigene Zechen. Diese Strategie ist über Jahrzehnte das Erfolgsrezept des Reviers. Das wirkt sich bis heute aus. Praktisch die gesamte Industrie im Ruhrgebiet hat ihren Ursprung in der Kohle.
Beispiele, bitte.
Farrenkopf: Denken Sie an die Kohle-Chemie, die ab den 1860er-Jahren entsteht. Der Hintergrund: Bei der Herstellung von Koks tritt Gas aus, aus dem Teer entsteht, wenn das Gas heruntergekühlt wird. So entwickelt sich die Teerfarben-Industrie mit Unternehmen wie BASF und Bayer. Auch Evonik hat heute noch einen großen Schwerpunkt in der Kohle-Chemie. Neben der Chemieindustrie haben auch Stromerzeuger wie Eon und RWE ihre Ursprünge im Bergbau. Die Nutzung von Kohle für die Erzeugung von Elektrizität im großen Stil beginnt allerdings erst im frühen 20. Jahrhundert.
Herrscht Mitte des 19. Jahrhunderts ein besonderer Gründergeist im Ruhrgebiet?
Farrenkopf: Es sind ab den 1830er-Jahren Unternehmer wie die Haniels, die technische Innovationen bringen, nicht die preußischen Beamten. Industrielle wie Haniel sind erstmal in der Lage, Tiefbauzechen anzulegen und weit unter der Erde Kohle abzubauen. Dafür ist internationales Know-how erforderlich, meist durch England inspiriert. Mit den Familien Haniel, Stinnes und Krupp streben Wirtschaftsbürger nach oben, die sich nicht ständig vom Staat sagen lassen wollen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Auch die preußischen Beamten sehen zunehmend, dass ein dirigistisches System der Industrialisierungsdynamik nicht mehr gerecht wird.
Haben die Patriarchen in den Bergwerken das Sagen?
Farrenkopf: Zunächst ja. Unternehmer wie Krupp, Haniel und Stinnes sind als Familienunternehmer paternalistisch geprägt, gleichzeitig verschlechtern sich aber im Vergleich zur staatlich kontrollierten Zeit die Arbeitsbedingungen, die Acht-Stunden-Schicht hat weitgehend ausgedient. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich zunehmend eine neue Manager-Generation. Beispielhaft ist Emil Kirdorf, der als Angestellter, nicht als Eigentümer agiert, gleichwohl aber großen Einfluss entwickeln kann. Kirdorf ist der legendäre Kopf der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG), viele Jahre lang Europas größtes Montanunternehmen. Es gibt vom Historiker Werner Plumpe die schöne These, dass der Ruhrbergbau ab den 1880er-Jahren grundsätzlich in der Krise gewesen wäre, wenn nicht Kirdorf das Rheinisch-Westfälische Kohlen-Syndikat (RWKS) gegründet hätte. Wohlgemerkt: Das RWKS ist das große Unternehmenskartell der deutschen Geschichte bis 1945.
Was sagt der Aufstieg eines Managers wie Kirdorf über den Bergbau im Ruhrgebiet aus?
Farrenkopf: Der Bergbau hat in dieser Zeit große Anziehungskraft auf gute Leute. Die Verdienstmöglichkeiten sind in der freien Wirtschaft um ein Vielfaches höher als in einer preußischen Behörde, etwa als Leiter eines Oberbergamtes, der zwar mit Federbusch und Entourage durch das Ruhrgebiet reisen kann, aber vergleichsweise schlecht bezahlt wird.
Welche Stellung haben die Bergleute?
Farrenkopf: Wolfgang Köllmann hat einen legendären Aufsatz geschrieben, der den Titel trägt: „Vom Knappen zum Bergarbeiter“. Unter der Regie des preußischen Staates und vor der Hochphase der Industrialisierung sind Bergleute gesuchte Fachkräfte, die mit besonderen Rechten ausgestattet sind. Beispielsweise sind sie vom Militärdienst befreit. Legendär ist das aus der Erzgewinnung bekannte Berggeschrei – also der Ruf nach Arbeitskräften, wenn eine Lagerstätte gefunden wird und gute Leute gebraucht werden. Mit der Liberalisierung des Wirtschaftszweigs ab dem Jahr 1865 hat es eine De-Privilegierung des Bergmanns gegeben.
Was meinen Sie damit?
Farrenkopf: Ein zunehmendes Klassenbewusstsein entsteht. Die Bergleute müssen feststellen, dass es nichts mehr bringt, Petitionen an den preußischen König zu schreiben. Der Protest bei der staatlichen Obrigkeit läuft ins Leere. An den Unternehmer zu appellieren, macht noch weniger Sinn. Die Arbeiter fangen also an, sich selbst zu organisieren. 1889 gibt es einen großen Bergarbeiterstreik, der fast das gesamte Ruhrgebiet lahmlegt. In dieser Zeit entsteht der Alte Verband, die Keimzelle für die heutige Gewerkschaft IG BCE.
Gibt es einen roten Faden, der von den Anfängen des Bergbaus bis heute reicht?
Farrenkopf: Wer die Anfänge des Ruhrgebiets kennt, kann heute das Ruhrgebiet besser verstehen. Das Ruhrgebiet ist das Ergebnis eines historischen Ablaufs. Fast alle großen Industrieunternehmen der Region basieren ursprünglich auf der Kohle. Mit der Schließung der zwei verbliebenen Bergwerke endet also ein Kapitel, aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.