München. Was der NSU-Prozess immer noch mit Thüringen zu tun hat und weshalb wir nicht verdrängen sollten, was offensichtlich ist

Nun also beginnt er endlich, der Prozess, von dem alle reden, auch wenn sie eigentlich nicht davon reden mögen. Zu lange mussten sich jedwede Beteiligten mit der Frage aufhalten, wann welcher Vertreter der veröffentlichten Meinung wo sitzen darf – was, trotz mancher Übertreibung, mehr am 6. Strafsenat des Münchner Oberlandesgerichts als an den Medien lag.

Ursprünglich hätte die Verhandlung vor knapp drei Wochen beginnen sollen. Damals wurde davon geschrieben, dass sich im Schwurgerichtssaal A 101 auch Thüringen auf der Anklagebank befinde, weil es nun einmal das Land sei, aus dem die Täter kamen.

Dies zog manch empörte Reaktion nach sich. Wir sind doch nicht die, hieß es. Was für eine Unterstellung!

Was war gemeint? Die Neuerfindung der Kollektivschuld bestimmt nicht. Es ging auch nicht darum, jene, die in Thüringen in den 1990er Jahren Politik machten, pauschal zu verurteilen. Selbst der hiesige Verfassungsschutz oder das Landeskriminalamt sind nicht in ihrer Gänze verantwortlich zu machen. Die meisten Beamten hatten sich, bei allen Fehlern, im Rahmen ihrer Möglichkeiten bemüht.

Nein, es geht darum, dass wir nicht neuerlich verdrängen, was doch so offensichtlich ist. Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wurden zu einer Zeit erwachsen, als nahezu wöchentlich Ausländer in Jenaer Straßenbahnen verprügelt wurden, als Neonazis in Süd- oder Ostthüringen national befreite Zonen ausriefen und als CDs mit nationalsozialistischem Liedgut auf vielen thüringischen Schulhöfen zu bekommen waren.

Ich lebte damals, vor 15, 20 Jahren, in dieser Stadt, studierte vor mich hin und schrieb für Zeitungen. Einige Kommilitonen wohnten in Lobeda, da passte man bei Besuchen auf. Auch ansonsten ging man den Glatzen, die eher selten im Stadtzentrum auftauchten, einfach aus dem Weg.

Bis auf die langen Haare, die ich damals noch besaß, hatte ich wohl nichts an mir, was sie provozierte. Ich war ja Deutscher.

Für eine Weile wohnte ich zwei Häuser neben der Evangelischen Jugendgemeinde, die sich mit einem eisernen Tor gegen die Angriffe der Rechtsextremen schützte – und die, zumindest zuweilen, auch nicht zimperlich gegen die Neonazis vorging. In manchen Nächten herrschte in manchen Gegenden Kriegszustand.

Doch die Lokalpolitik, vom Oberbürgermeister bis zum Stadtrat, ignorierte das alles, genauso wie der Rest der Welt. Als der „Spiegel“ eine große Geschichte über Jena schrieb, titelte er von der „Hauptstadt der Intelligenz“. Niemand wollte sich das von Lothar Späth und anderen gepflegte Image der Boomtown Jena kaputt machen lassen.

1998 flüchteten die Drei, um in Sachsen Terroristen zu werden. Das war auch ungefähr die Zeit, als die Neonazis ihre Strategie änderten. Ralf Wohlleben, dem auch im München der Prozess gemacht wird, ließ sich in den Ortschaftsrat des Jenaer Stadtteils Winzerla wählen. In Alt-Lobeda, einem anderen Vorort, bezog er eine alte Kneipe und machte sie zum „Braunen Haus“. Die Gewalt nahm ab, die Präsenz zu. Die NPD etablierte sich.

Der Sohn meiner Schwester, er ist 18, geht ab und an den in „Hugo“ in Winzerla. Der Club wurde vor einigen Jahren neugebaut, an Stelle der alten Baracke, in der Beate Zschäpe ihre Uwes kennen lernte.

Der Neffe sagt, selten, jedenfalls nicht oft, kämen auch einige, wenige Rechte vorbei. Sie fielen kaum auf, weder optisch noch sonstwie.

Aber sie sind noch da.