Entsetzt blickt die Welt im März nach Japan. Erst erschütterte ein Erdbeben das Land, dann fegte ein Tsunami über die Küste hinweg. Die Naturgewalten zerstören auch den Atomreaktor Fukushima I – es kommt zum Super-Gau.
Minuten lang bebt in Japan am frühen Nachmittag des 11. März 2011 die Erde. Das Beben von Tohoku mit der Stärke 9 wird nicht nur das das stärkste Beben sein, das Japan in den letzten 140 Jahren erlebt hat. Es ist auch der Auftakt einer dreifachen Katastrophe, die Japan für immer verändern wird. Und deren Wucht auch in Deutschland für eine atompolitische Kehrtwende sorgt.
Die bebende Erde setzt einen Tsunami in Bewegung, der die Küste auf einer Länge von Hunderten Kilometern verwüstet. Die Riesenwelle schwappt bis zu 10 Kilometer landeinwärts und überflutet 470 Quadratkilometer Fläche der Insel. Auf ihrem Weg reißt sie Häuser und Mauern ein, schmeißt Autos und Schiffe wie Spielzeug umher, verwüstet Fabriken, Ölraffinerien, Hafen und Flughafen der Stadt Sendai. Verschlingt auf ihrem Weg tausende von Menschenleben. Mehr als 15 800 Todesopfer fordern die Naturkatastrophen, weitere tausende sind bis heute vermisst.
Der atomare Schrecken ist unsichtbar
Zurück bleiben Familien, die ihre Angehörigen in den Trümmern suchen, ein schier unglaubliches Maß der Verwüstung. Die ersten Bilder, die nach dem Beben vor Japans Ostküste aus um die Welt gehen, sind Zeugnisse einer beispiellosen zerstörerischen Kraft. Was sich die Welt erst später gewahr wird: Das Unsichtbare ist der noch größere Schrecken der Katastrophe des Jahres in Japan. Die atomare Katastrophe hat längst begonnen.
Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi ist direkt am Wasser gebaut. Durch das Erdbeben wird die externe Stromversorgung des Reaktors lahmgelegt – Notstromaggregate springen ein. Als eine dreiviertel Stunde später eine über zehn Meter hohe Welle die dem Meer zugewandten Reaktorblöcke überflutet, fallen nicht nur die Notstromgeneratoren aus, auch die Meerwasserpumpen, die benutzt werden, um die Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen, funktionieren nicht mehr. Notfallbatterien können die Kühlung nur für kurze Zeit aufrecht erhalten, Fahrzeuge mit Stromgeneratoren aus dem Umland schaffen es nicht rechtzeitig, sich über die zerstörten Straßen einen Weg zum Kraftwerk zu bahnen.
Es gibt keine absolute Erdbebensicherheit
Japans Behörden und Reaktor-Betreiberfirma hatten geglaubt auf alles vorbereitet zu sein: Erdbebensicher hatte man die Kernkraftwerke bauen wollen. „Sicher“ hieß in den Planungen, dass die nukleare Technik Erschütterungen einer Intensität von bis zu 8,25 standhalten würde. Das Beben von Tohoku ist stärker; Auch die Tsunami-Schutzmauer ist mit 5,70 Meter zu niedrig für die Riesenwelle. Ist das Wasser erst auf dem Gelände, versagt ein Notfallmechanismus nach dem anderen. Die Welt beginnt zu ahnen, dass die Risiken atomarer Unfälle nur bis zu einem bestimmten Punkt kalkulierbar sind.
Indes bereitet sich Japan auf die nukleare Katastrophe vor: In einem Radius von zehn, später 20 Kilometer rund um das Kraftwerk Fukushima müssen die Menschen ihre Häuser verlassen. Die Betreiberfirma Tepco lässt immer wieder Druck aus den Reaktoren ab, um Explosionen abzuwenden. Die Luft, die entweicht ist radioaktiv verseucht. Japanische Nachrichtenagenturen berichten von alarmierend gestiegenen Strahlungswerten rund um das Atomkraftwerk.
Der Super-GAU ist nicht abzuwenden
In einem verzweifelten Wettlauf gegen die Zeit versuchen die Mitarbeiter des Kraftwerks unter Lebensgefahr Kühlsysteme wieder in Gang zu bringen, die drohende Kernschmelze abzuwenden. Die Werksfeuerwehr pumpt Meerwasser in die Reaktoren. Alle Mühen sind vergebens:
Am nächsten Tag, knapp 22 Stunden nach dem Erdbeben, teilt die japanische Atomaufsichtsbehörde NISA mit, dass in Fukushima möglicherweise eine Kernschmelze begonnen hat.
Atemlos verfolgt die Welt, wie aus einem schrecklichen Erdbeben der größte anzunehmende Unfall in einem Kernkraftwerk wird. Apokalypse in Endlosschleife. Jede Eilmeldung bringt eine neue Hiobsbotschaft: Explosionen in Reaktor 3 verteilen radioaktiven Schutt über das Gelände, Experten auf den Mattscheiben erklären uns, was eine Kernschmelze für Japan und die Menschen dort bedeutet, immer wieder steigt Rauch über den Reaktoren auf. Nachbeben verbreiten Angst und Schrecken. Derweil setzt in den Katastrophengebieten im Nordosten Japans der Winter den Überlebenden von Beben und Tsunami zu. In den Notunterkünften kommt nur wenig Trinkwasser und Heizöl an. 850 000 Haushalte sind ohne Strom, mindestens 1,5 Millionen ohne Trinkwasser.
Fotos der Evakuierungen gehen um die Welt: Japanische Soldaten prüfen mit Geigerzählern, ob Frauen, Männer, Kinder verstrahlt sind. Erschöpfte Menschen, die ihr Hab und Gut verloren haben, harren in Notunterkünften aus, ungewiss was die Zukunft bringt. Im nur 240 Kilometer entfernten Tokio bangt man um die Windrichtung: Wird der Wind die verseuchte Luft, wie vorhergesagt aufs Meer hinaus treiben oder ist die Millionenmetropole Tokio bedroht?
Wochen später wird die Betreiberfirma Tepco einräumen, dass auch es auch in den Reaktoren 2 und 3 zur Kernschmelze gekommen ist.
Die Folgen in Deutschland: Kehrtwende in der Atompolitik
Weltweit ist die Anteilnahme riesengroß. Mahnwachen, Spendenaktionen, Solidaritätsbekundungen erreichen Japan – auch und gerade in Deutschland fühlen und leiden die Menschen mit. Das außer Kontrolle geratene Kraftwerk macht der deutschen Öffentlichkeit schlagartig klar, dass atomare Risiken minimiert, aber niemals ganz ausgeschlossen werden können – mit weitreichenden politischen Folgen. Die Bundesregierung reagiert bereits am 14.März mit dem Atom-Moratorium. „Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, begründet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den Schritt. Alle deutschen Atommeiler sollen einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen werden. Zusätzlich nimmt man die sieben ältesten Kernkraftwerke auf deutschem Boden gleich vom Netz. Zunächst für drei Monate.
Der Fukushima-Effekt beschert grünes Allzeit-Hoch
Nachdem die Bundesregierung nur ein knappes halbes Jahr zuvor die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke gegen den Willen der Opposition durchgesetzt hatte, ist dies eine Kehrtwende in der Atompolitik, auf die Öffentlichkeit und Opposition mit Staunen reagieren. Beobachter und Medien mutmaßen, das dreimonatige Moratorium sei ein politischer Schachtzug, um kurz vor den bevorstehenden Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im Klima des Entsetzens über die nukleare Katastrophe bei den Wählern zu punkten. Enormen Zuspruch gewinnen bei den Landtagswahlen in Süddeutschland vor allem die Grünen. Der so genannte Fukushima-Effekt, beschert der Partei, die aus der Anti-Atomkraftbewegung hervorging, sogar den ersten grünen Ministerpräsidenten aller Zeiten.
Merkels Moratorium indes bleibt kein leeres Versprechen: Der Atomausstieg kommt. So zynisch es klingen mag: Was in Japan zerstörerische Wirkung entfaltet, ist hierzulande offenbar konstruktiv. Ein jahrezehnte andauernder Streit um die Atomkraft verebbt in einem See aus Einigkeit: Die Energiewende ist zum Mainstream geworden. Am 30.Juni stimmt der Bundestag für eine Änderung des Atomgesetzes: Die sieben ältesten Atommeiler und das AKW Krümmel bleiben vom Netz, die übrigen neun AKW werden bis 2022 stufenweise stillgelegt.
Die Dreifach-Katastrophe hat das Land verändert
Jenseits deutscher Revolutionen auf dem Gebiet der Atompolitik, geht in Japan bis heute der Schrecken weiter. Noch immer ist eine endgültige Stabilisierung von Fukushima nicht erreicht. Immer wieder kommt es bei den Stabilisierungsarbeiten zu herben Rückschlägen: Zuletzt ist im November von einer neuerlichen Kernspaltung im Reaktor 2 der Atomruine die Rede. Wiederholt pumpt Betreiber Tepco schwach radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer. Niemand weiß ansonsten wohin mit der giftigen Brühe, die immer noch zu Unmengen in das Atomwrack gepumpt wird, um es zu kühlen.
Das große Beben hat das Vertrauen in die friedliche Nutzung der Atomkraft und die Technikbegeisterung der Japaner erschüttert. Immer wieder gehen die Japaner zu Tausenden gegen die Atomkraft auf die Straße. In Umfragen sprechen sich über drei viertel der Japaner Prozent gegen die Kernkraft aus. Zeitungen prangern die anfänglich katastrophale Informationspolitik der Regierung und Versäumnisse der Atommanager an.
Die Umgebung um das havarierte Atomkraftwerk wird mutmaßlich auf Jahrzehnte hin nicht zu betreten sein. So betrug die Strahlung im August in einigen Gebieten der 20-Kilometer Sperrzone noch im August mehr als 500 Millisievert pro Jahr – 25 Mal soviel wie der jährliche Grenzwert. Der Schrecken von Fukushima ist noch lange nicht durchgestanden.
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