Witten. . Ein Leben in völliger Dunkelheit ist für viele Menschen ein Albtraum. Für Henry Wanyoike ist es der Alltag. Der Kenianer erblindete durch einen Schlaganfall mit 21 Jahren. Heute ist er Botschafter für die Christoffel-Blindenmission und mehrfacher Paralympics-Sieger im Marathon.

Wie ist es blind zu sein? Eine Frage, die sich sicher jeder schon einmal nachts auf dem Weg durch die stockdunkle Wohnung gestellt hat. Im Übungswagen der Christoffel-Blindenmission (CBM) konnten die Schüler des Ruhr-Gymnasiums dieses Gefühl gestern erst hautnah erleben und dann von dem blinden Marathonläufer Henry Wanyoike erfahren, wie es ist, wenn man plötzlich nicht mehr sehen kann.

Eng ist es im CBM-Übungswagen – und mit der Milchglas-Brille auch sehr beengend. Die Brille soll Grauen Star im Endstadium simulieren. Und tatsächlich: Beim Selbstversuch erkenne ich nichts, außer Umrisse. Vorsichtig taste ich mich durch den Raum. Eine Stufe ist das erste Hindernis – Stolpergefahr. Plötzlich stehe ich vor einer Wand. Nur durch die Stimme von Ottfried Sannemann von der CBM, finde ich die Orientierung wieder. Ich drehe mich nach rechts, gehe durch einen Perlenvorhang, der mir vorkommt wie eine Wand aus Schlangen. Dann stehe ich auf kleinen, wackeligen Holzbrettern und gehe noch einen Meter – geschafft. Aber wo bin ich jetzt? Zu meiner großen Verwunderung stehe ich direkt am Anfang des Parcours und nicht draußen vor dem Wagen. „Die räumliche Wahrnehmung ist anders, wenn man blind ist“, sagt Sannemann.

Alltag für Henry Wanyoike

Dieses Szenario erlebt Henry Wanyoike jeden Tag. Der Kenianer erblindete mit 21 Jahren durch einen Schlaganfall. Heute ist er als Botschafter für die Christoffel-Blindenmission unterwegs. Im Kunstraum des Ruhr-Gymnasiums ist es mucksmäuschenstill. Nur Wanyoike spricht. Der 40-Jährige mit der coolen braunen Sonnenbrille sitzt auf einem Stuhl vor den Schülern und antwortet auf Englisch auf die Fragen der Sechstklässler. Gebannt lauschen ihm alle.

„Was wäre, wenn du nicht blind geworden wärest?“, fragt ein Mädchen. Anna-Sophie Voerckel (30) von der Blindenmission übersetzt die Frage: An die Zeit ohne die Erblindung zurückzudenken, mache ihn traurig, sagt Henry mit ruhiger Stimme.

Der Thomas Müller Kenias

Ein Schlaganfall beschädigte 1995 seinen Sehnerv – er erblindete über Nacht. „Die erste Zeit war schrecklich für mich“, sagt er. Nur mit Hilfe der Blindenmission und einer intensiven zweijährigen Therapie könne er wieder selbstständig leben. „Ich musste alles von vorne lernen – als wäre ich ein Kind“, beschreibt er die Zeit in der Augenklinik. Trotz seines Schicksals wirkt Wanyoike zufrieden und ausgeglichen. „Der Sport hat mir Kraft gegeben“, berichtet er. Im Jahr 2000 bei den Paralympics in Sydney gewann er die Goldmedaille über 5000 Meter.

Ein Junge fragt, wie es ist berühmt zu sein. „In meiner Heimat werde ich oft um Autogramme gebeten“, sagt Henry und muss kurz lachen. Voerckel hakt ein und erklärt den Schülern, dass Laufen in Kenia Nationalsport sei, „wie Fußball in Deutschland“. Er sei der Thomas Müller Kenias. Dann klingelt es, die Kinder haben Pause. Sichtlich beeindruckt verlassen sie den Kunstraum. Aber nicht, ohne sich vorher Autogramme zu holen – beim Thomas Müller Kenias.