Witten. . Paula und Tabea vom Ruhrgymnasium finden, dass die Persönlichkeit bei den „G9“-lern ausgereifter sei. Sie hätten auch gerne etwas mehr Zeit für ihre Hobbys. Die Zwölftklässlerinnen machen sich außerdem Sorgen um einen Studienplatz. Sie schlagen statt der Auswahl nach Noten etwas anderes vor.

„Ob nun G8 oder G9 – fürs Abi lernen müssen wir so oder so.“ Die beiden Schülerinnen Paula Schweppe (18) und Tabea Jaquet (17) gehen in die zwölfte Klasse am Ruhrgymnasium und stehen kurz vor ihrem Abschluss – sie gehören also zu denen, die ihr Abitur bereits nach zwölf Schuljahren in der Tasche haben. Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitschüler machen sie sich zwar keinen Druck, finden’s aber schade, dass durch den Nachmittagsunterricht so viel Freizeit verloren geht.

„Gerade auch in den unteren Klassen ist es echt schlimm zu sehen, wie lange die Kinder in der Schule sind“, sagt Paula. Die Kleineren hätten schon ab der sechsten Klasse Unterricht am Nachmittag, der ihnen „ein Stück Kindheit wegnimmt“, finden die Schülerinnen. Sie selbst haben nur einen Tag in der Woche, in denen ihnen noch genügend Zeit für andere Dinge bleibt: „Montags haben wir nur bis 14 Uhr Unterricht, sonst fast immer bis 16.30 Uhr.“

Meist finden dann Zusatzkurse oder Sport statt, bei allem anderen „wäre es auch schwierig, sich zu konzentrieren“, so die beiden Schülerinnen. Früher mussten sie sich nachmittags aber auch durch „Brocken“ wie Mathe, Physik und Co. quälen. Dass man da unbedingt noch einen Ausgleich braucht, da sind sich Paula und Tabea einig: „Irgendwas muss man neben der Schule noch machen.“

Bangen um Studienplätze

Aber was sind die Vorteile vom „Turbo-Abi“? „Die sehe ich gar nicht so“, ist Paula ehrlich. „Die Abiturienten, die ein Jahr mehr hatten, sehe ich eher im Vorteil. Da war die Persönlichkeit ausgereifter“, so die Begründung der 18-Jährigen. Beim Abi nach zwölf Jahren gebe es Absolventen mit 16/17 Jahren, die „noch gar nicht wissen, was sie überhaupt mal machen wollen“, so die beiden Zwölftklässlerinnen. Viele würden dann ein Freiwilliges Soziales Jahr machen oder eine Ausbildung anfangen, die sie gar nicht weitermachen wollen, nur um nicht ohne Beschäftigung zu sein. Das würde ihnen die ersparte Zeit aber wieder nehmen.

Sie stört aber noch etwas: „Nach dem doppelten Jahrgang im vergangenen Jahr, wo es zu wenig Studienplätze gab, werden sich die, die keinen bekommen haben, jetzt wieder bewerben. Das ist für uns natürlich doof“, sehen sie ein Problem. Das Ganze sei nicht gut durchdacht. Sie würden es besser finden, wenn man statt auf den Notendurchschnitt, den NC, auf die Talente der Schüler achten würde.

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Gastkommentar aus dem Ruhrgymnasium 

Auch Zwölftklässler Tobias Bosselmann macht sich Gedanken über das Modell „G8“ und hat einen Kommentar verfasst:

„Für mich als Schüler des zweiten G8-Jahrgangs gibt es für das „Turbo-Abi“ nur ein nachvollziehbares Argument: dass angesichts des demografischen Drucks, der auf Europa lastet, die Arbeitszeit der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten nicht nur nach hinten heraus verlängert werden kann, um das Niveau der Renten- und Sozialversicherungsbeiträge zu erhalten. Sondern auch, dass dafür wir als Schüler dem Arbeitsmarkt ein Jahr eher zur Verfügung stehen sollen. Bevor dieses Argument für mich verständlich wurde, fühlte ich mich wie der Gegenstand eines Experiments.

Meine Eltern litten mit mir, als sie realisierten, dass der Lernaufwand, den ich schon in der sechsten Klasse aufwenden musste, ungleich höher war als der, den sie selbst in den höheren Klassen leisteten. Dann habe ich bei meinem Nebenjob in der Hausaufgabenbetreuung an einer Grundschule selbst Kinder kennegelernt, die sogar in der zweiten, dritten Klasse bereits Nachhilfe bekommen.

Soziale Medien verstärken Stress

Ohne meine Eltern oder die Berichte älterer Mitschüler hätte mir wahrscheinlich bis heute ein Bewusstsein dafür gefehlt, dass ich aus ökonomischen Gründen um einiges mehr unter Stress in dem Teilbereich meines Lebens stehe, der mich eigentlich auf die Unruhe und Schnelllebigkeit in der Arbeitswelt vorbereiten sollte. Verstärkt wird der Effekt „mehr Stoff in weniger Zeit lernen“ durch ein anderes Phänomen: Soziale Medien und somit die ständige Erreichbarkeit führen zu einer enormen Beschleunigung im privaten und schulischen Bereich. Die Grenzen verschwimmen zunehmend. Dadurch wächst das Stresspotenzial, das wiederum den Spielraum für Hobbys oder Entspannung einengt. Insofern spielt die verkürzte Gymnasialzeit zwar nicht die alleinige Rolle in unserem zunehmend gehetzten Leben, aber eine nicht unwesentliche.

Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass G8 auch mit einem enormen Mehraufwand für das Lehrpersonal verbunden ist. Einerseits soll der zu vermittelnde Stoff fristgemäß in unsere Köpfe hineinkommen, anderseits sind die Lehrer bemüht, den Druck so gut wie möglich durch eine klare Struktur und kompetentes Anleiten abzufedern. Man muss sich fragen, ob die Angst, im internationalen Vergleich abgehängt zu werden, als hinreichender Grund dafür akzeptiert werden kann, Schülern einen Verlust an Freizeit und Lebensqualität zuzumuten.

Mit dem erwähnten Fall aus der Grundschule vor Augen kann man sich nur schwer der Erkenntnis verwehren, dass es einige Degenerationserscheinungen in der Freizeitgestaltung junger Menschen gibt. Wir als Schüler stellen fest, was plötzlich anscheinend auch nahezu bundesweiter Konsens zwischen Landesregierungen (ausgenommen NRW) ist: Die Verkürzung der Gymnasialzeit bedarf entweder einer gleichzeitigen Anpassung im Schulstoff, oder sie sollte rückgängig gemacht werden.“

waz.de/familie-heute