Witten. . Thema Integrationshelfer aus der anderen Sicht: Marco Gerbert (43) leidet bis heute an ADS und leichtem Autismus. In seiner Kindheit interessierte sich keiner dafür, warum der Junge so anders war. Seine Erfahrungen würde er anderen gern ersparen.

Wie man ihm hätte helfen können - darüber würde Marco Gerbert am liebsten ein ganzes Buch schreiben. Berichte, wie letztens der über die steigenden Kosten für die Schulbegleiter, die psychisch erkrankte Kinder betreuen, machen ihn wütend. Denn der heute 43-Jährige bekam in seiner Kindheit keine Hilfe angeboten.

An der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung ADS und leichtem Autismus leidet er noch heute. Für seinen Weg ins „normale Leben“ kämpft er unermüdlich, immer noch. Denn es lohnt sich: „Ich bin der lebende Beweis, wie eine Vita sich komplett ändern kann.“ Seine Erfahrungen würde er anderen gern ersparen.

ADS vererbt sich, Gerberts drei Kinder zeigen Anzeichen und auch sein Vater hatte es wohl. Dessen Art, damit umzugehen: Der hochintelligente Choleriker verprügelte den auffälligsten seiner Söhne, ewig gab es Geschrei, „er hat mich seelisch kaputt gemacht“.

In der Schule war er ein Sonderling, irgendwie anders. Konnte sich keine 30 Sekunden konzentrieren, wechselte in abstrusen Folgen das Thema, kann Nebengeräusche nicht ausblenden. Schnell wurde er zum Prügelknaben. „Marco könnte soviel mehr, wenn er sich nur konzentrieren würde“, stand stets in seinen Zeugnissen. Warum ihm das nicht gelang, fragte niemand. „Marcolein, dir war ja gar nicht beizukommen“, pflegte seine Tante zu sagen. Ein hoffnungsloser Fall, man gab auf.

Die Hauptschule schaffte er mit Ach und Krach. Berufsausbildungen brach er immer wieder ab. Zwei mal Bäcker, drei Mal Friseur, die Umschulung zum IT-System-Elektroniker. Warum? Geträumt, vergesslich, unkonzentriert, andererseits konnte er gewaltig ausflippen. „Ich habe mich als normal wahrgenommen und fühlte mich von den anderen ungerecht behandelt.“ Hinzu kam Cannabismissbrauch: „Das machte die Birne ruhiger.“

Marco Gerbert erzählt das alles ruhig, strukturiert. Warum er so ausgeglichen wirkt? Es sind die lilafarbenen Medikamente, die er aus der Hosentasche zieht. Sein Lichtblick: Ohne Methylphenidat, dem Wirkstoff, der auch in Ritalin steckt, geht nichts. Nur: Vorgesehen ist er für Kinder - da ADS sich zum Teil in der Pubertät auswächst. Mindestens ein Drittel der Jugendlichen aber behält die Störung bei.

So auch Marco Gerbert. Seine erste Pille, die wirkte, „als hätte jemand den goldenen Käfig geöffnet. Ich konnte Geräusche voneinander trennen, ich konnte mich unterhalten. Ich war entspannt. Es war, als käme ich aus der Wüste und ein Engelchen pinkelt mir auf die Seele.“

So ist es, normal zu sein. Das Jobcenter finanzierte ihm den Beruf, den Gerbert wirklich wollte: Arbeitspädagoge plus eine sonderpädagogische Zusatzausbildung mit dem Schwerpunkt ADHS. Es finanzierte auch die Medikamente, denn die Krankenkasse zahlt nur für Kinder.

Ohne Pillen hat sich Gerbert nicht mehr unter Kontrolle: Schreit die Kinder an, weil der Fernseher zu laut ist, bekommt Depressionen. Die Folge: Er verklagt die Krankenkasse. Gerbert nervt: Patientenbeauftragte, den Medizinischen Dienst, Ausschuss-Mitglieder. Seine Frau ermuntert ihn: „Auch deine Kinder werden älter.“ Die Klage scheitert, die ewigen Telefonanrufe befeuern offenbar eine sich anbahnende Entwicklung: Methylphenidat bekommen nun auch Erwachsene.

Als Berater für Menschen, die an ADS oder Autismus leiden, versucht sich Gerber nun zu etablieren. Demnächst beginnt er, als Integrationshelfer junge Autisten in die Schule zu begleiten - eine Hilfe, die er sich gewünscht hätte: „Jemand, der eine Brücke zwischen mir und den anderen Kindern baut.“