Witten. .
Wenige Minuten vor ihrer Ankunft goss es noch in Strömen. Doch dann zeigte sich der Himmel gnädig. Im Trocknen absolvierte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft am Samstagmorgen (7.9.) ihren anderthalbstündigen Wahlkampfauftritt in der Wittener Innenstadt.
Unter roten Schirmen erwartet die Wittener SPD die Spitzengenossin am Berliner Platz. Begleitet von Bundestagskandidat Ralf Kapschack und dessen Vorgängerin Christel Humme, sucht die Landespolitikerin das Gespräch mit den Bürgern. Zwischen Stadtgalerie und Bahnhofstraße überrascht sie Hülya Tasdelen mit einer roten Rose. „Guten Morgen, ich mache heute Werbung für die SPD!“ Kraft appelliert an die Menschen, wählen zu gehen. „Das ist eine sehr wichtige Wahl.“
Ein älterer Herr nähert sich mit einem Foto, das er von sich und Kraft bei deren letzten Besuch im Vorjahr in Witten machen ließ. Jetzt bittet er um ein Autogramm darauf. „Für meinen Freund Lothar.“ Da würde sie ja Ärger mit ihrem Mann kriegen, scherzt die Ministerpräsidentin und schreibt einfach: „Für Lothar Kaminski.“
Inzwischen ist Kraft - sie trägt einen blauen Blazer, darunter eine weiße Bluse mit einem bunten Seidenschal und rote Hosen - im Gewühl am Berliner Platz angekommen. „Kann ich Fragen beantworten?“ „Alles gut?“ Sie geht auf die Leute zu. „Ich bin ein ganz normaler Mensch.“ Ingeborg Dropmann (72) lobt die Frisur der Landesmutter „Der Schnitt steht Ihnen sehr gut.“
Opelaner protestieren vor Cafe Extrablatt
Kraft übersieht auch die Opelaner nicht, die sich mit einem schwarzen Transparent vors Café Extrablatt gestellt haben: „Wir wollen auch die Wahl haben!“ Die Betriebsräte beklagen den Abbau von Industriearbeitsplätzen, alles gehe „in Richtung Dienstleistung“. „Wir von der SPD wollen die Industriearbeitsplätze erhalten“, versichert Kraft und geißelt die Bundesregierung, wie schlecht diese die Energiewende manage - und damit auch industrielle Jobs gefährde. Zum Abschied ruft Betriebsrat Helmut Bonk (54): „Berlin ist schön. Aber bleiben Sie hier!“
Und weiter geht’s, die Bahnhofstraße rauf Richtung Galeria Kaufhof. Hier ein Röschen, dort ein nettes Wort und immer wieder der Appell: Wählen! „Wenn genug hingehen, klappt’s auch. Rufen Sie noch ein paar an.“ Und: „Bloß nicht von den Umfragen verrückt machen lassen.“
Eine Frau verwickelt die Politikerin in ein längeres Gespräch über 450-Euro-Jobs, eine andere sorgt sich um die Zukunft der Pflege, wo es viel zu wenig Personal gebe, ein Vorruheständler klagt über seine niedrige Rente: „Nach 49 Jahren bleiben mir 1300 Euro. Das ist kriminell.“
Kraft hört zu, fordert ein Rückkehrrecht in sozialversicherungspflichtige Jobs für Mütter, fragt einen jungen Vater, wann die Tochter in die Kita komme. Die habe schon einen U-3-Platz, antwortet der. Rentner Karl-Heinz Ligowski und Frau Doris (beide 73) überraschen die Ministerpräsidentin mit der Frage: „Sie sind doch Chefin. Warum gibt es so ein Theater mit Legionellen?“ Kraft sagt, dass die Proben Zeit brauchen. „Was sollen wir denn machen. Allen das Wasser abstellen?“
Vom Nusskuchen durfte sie nicht naschen
Vorbei an den Wochenmarktständen - „richtig was los hier“ - geht’s rauf zur Galeria Kaufhof. Von rechts reicht jemand Nusskuchen. „Ist da Gluten drin?“ fragt die Ministerpräsidentin. „Ich darf kein Mehl essen.“ Dann beschließt die Spitzengenossin, doch noch zum Rathausplatz zu gehen, wo die SPD groß aufgebaut hat, wegen des Regens auf die Feier aber verzichten wollte. „Geht die Anlage?“, fragt Kraft, marschiert los, vorbei am Reibekuchenstand, wo sie ein persönliches Wort an den ehemaligen Landtagsabgeordneten Dietrich Kessel richtet. „Mach ruhig wieder an, es kommen ja vielleicht doch noch ein paar.“
Dann spricht sie vor rund 150 Menschen und dem maroden Rathaus, fordert Hilfen des Bundes für die Kommunen, geißelt die Bildungspolitik von Schwarz-Geld, die den Erfolg der Kinder immer noch abhängig mache vom Geldbeutel der Eltern, beschwört Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit. „Wollen Sie die Ellbogen oder das Wir?“ Das kommt gut an, hier Applaus, dort sogar ein Bravo-Ruf.
Sie geißelt Niedriglöhne, Leiharbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, fordert Mindestlöhne und eine Bürgerversicherung statt einer „Zwei-Klassen-Medizin“. Geplante Steuererhöhungen für die obersten fünf Prozent der Einkommensbezieher sowie eine Vermögenssteuer begründet sie mit den nötigen Investitionen: „Wir brauchen mehr Geld für Kinder, Bildung, die Kommunen und Infrastruktur.“
Zum Abschluss überreicht die Wittener SPD ihr noch einen Geschenkkorb. Nach der Wahl könne sie erst mal zwei Wochen essen und trinken, sagt Hannelore Kraft. Dann ist sie weg, ihre dunkle gepanzerte Limousine wartet unterm „Luxus“-Haltestellendach am Rathaus. Jetzt geht’s zum Wahlkampf nach Münster.