Tamar Dreifuss (74) überlebte mit ihrer Mutter die systematische Vernichtung der Juden in Litauen.Im Ruhr-Gymnasium berichtet sie von Getto, Erschießungen und Flucht.

„Dass ich hier überhaupt stehe, verdanke ich nur meiner Mama“, sagt Tamar Dreifuss (74) den Schülerin in der Aula des Ruhr-Gymnasiums zu Beginn ihres bewegenden Vortrags. Diese habe immer gesagt: „Es ist besser, auf der Flucht erschossen zu werden, als wie ein Schaf in den Schlachthof zu gehen.“

Die Mutter starb 1987. Ihre Autobiografie wurde 1971 in Israel als eins der besten Bücher zum Holocaust ausgezeichnet. Die Tochter, die bald nach dem Krieg ihres Mannes wegen von Israel nach Deutschland gekommen war, hat es 2001 aus dem jiddischen Original ins Deutsche übersetzt. Als die Judenverfolgung das litauische Vilnius erreichte, war Tamar Dreifuss, Jahrgang 1938, drei Jahre alt. Beim Übersetzen wurden die Erinnerungen wach. Seitdem liest sie aus dem Buch der Mutter vor Schülern, zeigt Bilder von damals und heute. „Vielleicht ist es mein Schicksal, dass ich das mache“, sagt sie auf die Frage einer Schülerin. „Und man muss was dagegen tun, wenn die Neonazis wieder den Kopf heben, wenn diese krankhafte Ideologie wieder aufkommt.“

Vilnius galt als das „Jerusalem des Nordens“. 60 000 Juden lebten dort vor dem Krieg – ein Drittel der Bevölkerung. 30 000 und 10 000 Juden waren es noch im großen und kleinen Ghetto von Vilnius, „das kleine wurde schnell aufgelöst“. 200 000 Menschen seien aus dem Großraum Vilnius „weggekommen“, sagt Tamar Dreifuss. 100 000 wurden allein im berüchtigten Wald von Ponar erschossen – 70 000 Juden, die andern Geistliche und andere Regimegegner.

Menschen schaufelten eigenes Grab

„Wir konnten nicht fassen, dass wir in einem Schlachthaus lebten, unsere Tränen waren wie ausgetrocknet“, berichtet Dreifuss. Die jüdische Familie floh aus Vilnius nach Ponar. Dort hörten sie die Maschinengewehr-Salven aus dem nahen Wald. „Die Menschen mussten dort vorher ihr eigenes Grab schaufeln.“ Die kleine Tamar wurde bei einer Tante versteckt, die Mutter im Kloster – den Rosenkranz, den die Nonnen der Mutter schenkten, hat Tamar Dreifuss im Ruhr-Gymnasium dabei: „Sie hat ihn aufbewahrt, obwohl wir Juden geblieben sind“. Zusammen kamen sie ins Ghetto von Vilnius. Von dort aus wurde der Vater deportiert, er starb im KZ. Auch Mutter und Tochter wurden in einen Viehwaggon gesteckt. Die Mutter ahnte, was das bedeutete. Zweimal missglückte die Flucht. Der dritte Versuch gelang. Dreifuss: „Ich glaube, wir sind die einzigen, die am Leben geblieben sind von den vielen Menschen im Waggon.“