Witten. . Eine Diskussion über ein brisantes Thema. Seit einem Urteil, das diesen Eingriff als Körperverletzung wertete, wird über die Rechte der Eltern diskutiert.

Für Juden und Muslime gehört die Beschneidung von Jungen zur Tradition. Doch seit ein Gericht die Beschneidung als Körperverletzung bewertete, ist eine heftige Diskussion ausgebrochen. Über Traditionen, Toleranz und Respekt diskutierten Alexander Sperling, Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde Dortmund, zu der auch etwa 100 Wittener gehören, Armin Suceska, Sekretär des bosnischen Kulturzentrums und Serap Bachmann vom Kinderschutzbund mit Redakteurin Claudia Scholz.

Die Beschneidung wird seit Jahrtausenden praktiziert. Warum gibt es nun die hitzige Debatte?
Alexander Sperling: Das Kölner Urteil war ein Auslöser, ist aber keine Erklärung für die Schärfe der Diskussion. Dieses Einzelfallurteil hat keine bindende Wirkung für andere Gerichte und wird von vielen Juristen als fehlerhaft eingestuft. Dass so hitzig diskutiert wird, hat mit wachsendem Antisemitismus und Islamophobie zu tun, mehr aber noch mit Unwissenheit. Etwa eine Milliarde Männer sind beschnitten. Für ein Drittel der Weltbevölkerung und Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund ist die Beschneidung von Knaben einer der normalsten Vorgänge. Dies nun zu kriminalisieren, ist einfach nicht nachvollziehbar.
Armin Suceska: Ich habe das Gefühl, dass im Moment sowieso vieles, was mit Muslimen zu tun hat, aufgebauscht wird.

Warum ist Beschneidung wichtig?
Sperling: Ohne Beschneidung kann es kein aktives Judentum geben. Die Beschneidung am achten Tag nach der Geburt bedeutet, den Bund mit Gott einzugehen. Sie gehört seit Jahrtausenden zu den Pflichten einer jüdischen Familie. Ausnahmen kann es nur aus akut medizinischen Gründen geben.
Suceska: Es gibt Muslime, die die Beschneidung als Pflicht empfinden. Wir Sunniten sehen sie als Sunna (Brauch), weil der Prophet beschnitten war. Und wir wollen dem Propheten nacheifern.

Beschneidungs-Gegner kritisieren, dass die Jungen verletzt werden.

Sperling: Das ist zwar ein körperlicher Eingriff, aber keiner, der die Begriffe „versehrt“, „verstümmelt“ oder „traumatisiert“ zulässt, vor allem wenn man die Abermillionen Beschnittenen Männer selbst fragt. Das Kölner Urteil wurde damit begründet, dass die Beschneidung von Jungen ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist. Nach deutschem Recht ist aber sogar Haareschneiden ein strafbarer Eingriff, außer der Betroffene stimmt zu. Wenn Kinder zu klein sind, haben Eltern das Recht und die Pflicht, das für sie zu entscheiden.
Bachmann: Da bin ich anderer Meinung. Mir ist die Selbstbestimmung meines Kindes sehr wichtig. Ich bin ein radikal freiheitsliebender Mensch, das hat auch mit meiner Biographie zu tun. Ich musste als Jugendliche hart für meine Freiheit kämpfen. Mein Mann und ich haben uns entschieden, unseren Sohn nicht zu beschneiden. Er ist jetzt 14. Ich habe ihn gestern gefragt, wie er damit umgehen würde, hätten wir ihn beschnitten. Er sagte, er würde uns das übelnehmen.
Sperling: Das kann aber genauso auch umgekehrt gelten. Ein jüdisches Kind könnte es später sehr übelnehmen, wenn es nicht beschnitten worden wäre. Wenn man ihm die Beschneidung verwehrt, würde man einem religiösen Juden einen sehr schwerwiegenden ideellen Schaden zufügen. Dies würde auch nicht der Religionsfreiheit entsprechen. Man muss Respekt für andere Eltern und ihre Entscheidungen haben, solange sie ihren Kindern nicht schaden.
Suceska: Was mich am meisten aufregt, ist, dass es keinen roten Faden gibt. Wenn Eltern ihren Mädchen Ohrlöcher stechen lassen, ist das okay. Die Beschneidung aber soll Körperverletzung sein. Dann müssen alle gleich behandelt werden.

Manche vergleichen den Eingriff mit der weiblichen Beschneidung.
Suceska: Das kann man nicht miteinander vergleichen.
Sperling: Das ist eine schlimme Verharmlosung der weiblichen Genitalverstümmelung.
Ist die Beschneidung für die Kinder denn schmerzhaft?
Sperling: Bei Neugeborenen ist das nur ein kleiner Schnitt, der in etwa drei Tagen verheilt. Manche Babys verschlafen das sogar. Im Erwachsenenalter wären die damit verbundenen Schmerzen schwerwiegender.

Wer führt die Beschneidung durch?
Sperling: Der Mohel. Das ist ein medizinisch ausgebildeter Heilparktiker, der hierauf spezialisiert ist. Unsere Gemeinde hat einen Mohel aus Antwerpen, der für jede einzelne Beschneidung kommt.
Suceska: Bei uns Bosniern passiert das meist nach der Geburt im Krankenhaus. Bei anderen Muslimen wird später beschnitten und geht einher mit einer großen Feier.
Bachmann: Das Kind wird gefeiert und bekommt Geschenke.
Suceska: Eine Folge der Debatte ist schon jetzt, dass nicht mehr alle Ärzte die Beschneidung durchführen wollen. Das ist sehr gefährlich. Eltern könnten dann zu Leuten gehen, die das nicht so gut machen.

Woher kommt die Tradition?
Sperling: Sie geht zurück auf Abraham, Stammvater des Juden- und Christentums und des Islams. Er war der erste, der von Gott die Aufgabe erhielt, ihm zu folgen. Und als Symbol für den Bund mit Gott hat er sich und seine männlichen Angehörigen beschnitten. Im Christentum wurde bis vor kurzem auch die Beschneidung Jesu gefeiert.
Was wünschen Sie sich?
Sperling: Dass die Menschen sich respektieren. Dass es völlig okay ist, wenn sich Eltern gegen die Beschneidung entscheiden, dass aber auch akzeptiert wird, wenn sich andere dafür entscheiden.
Bachmann: Eltern sollten über das Wertvollste, das sie auf der Welt haben — ihre Kinder — selbst entscheiden können.