Die Erinnerungen an seinen kurzen Aufenthalt in Witten hat Georgij Alexandrowitsch Jermakow nur noch schemenhaft im Kopf. „Wie Fotos“, kommen sie ihm vor. Die von Bomben zerstörte Innenstadt der Ruhrstadt und die erlösende Abfahrt in Richtung Heimat haben sich beim heute 70-Jährigen eingebrannt.
Als Zweijähriger war der Weißrusse mit seiner Familie aus der Heimat nach Witten verschleppt worden. Von August 1944 bis zum Kriegsende lebte er in einer der Baracken des so genannten Gemeinschaftslagers Fischertal. Im Lager herrschten laut Historiker Ralph Klein schlimme Zustände. Dort starben während der NS-Zeit im Durchschnitt die meisten Zwangsarbeiter in Witten.
Als Kleinkind wurde Jermakow nicht zur Arbeit im Ausbesserungswerk der Reichsbahn mitgenommen. Dort schufteten seine Mutter, die Onkel und Tanten. Trotzdem erlebte der Junge eine entbehrungsreiche Zeit. Es herrschte Nahrungsmangel. Das Kind wurde fast allein im Lager zurückgelassen. Wäre nicht die 14-jährige Tante bei ihm gewesen, wer weiß was mit dem Jungen passiert wäre. In ihrer Not bettelte die junge Weißrussin um Brot, um dem kleinen Neffen das Überleben zu ermöglichen.
Bedürfnis nach Aufklärung
Das frühe Kapitel seiner Lebensgeschichte hat bei dem Weißrussen Spuren hinterlassen. Doch erst im Alter stieg bei Jermakow das Bedürfnis nach Aufklärung und Verarbeitung. „Man versucht der Vergangenheit zu entgehen. Doch früher oder später erwischt sie einen doch“, sagt der Weißrusse. Aus diesem Grund suchte der 70-Jährige die Stationen seiner Gefangenschaft auf. In Köln, der ersten Station der Familie, redete er mit Schülern über das Thema Zwangsarbeit. In Witten ist das Stadtarchiv sein Ziel. In dessen Bestand befinden sich die Unterlagen über die Zwangsarbeiter. Zum ersten Mal sieht Jermakow hier die Zeugnisse der verbrecherischen NS-Politik. Tiefe Verbitterung habe er beim Anblick verspürt. Bevor er das sagt, schluckt er. Jermakow denkt an seine Mutter und seufzt. Zwar sei sie entschädigt worden. Doch mit Geld allein sei das Erlebte kaum gutzumachen.
Auch den einstigen Einsatzort seiner Verwandten, das heutige Weichenwerk der Deutschen Bahn, schaut sich der 70-Jährige an. Kein leichter Gang. Aber einer, den er hinter sich bringen muss. Schließlich dringt Zuversicht hervor. „Ich bin mir sicher, dass dieser Tag dazu beiträgt, die innere Balance zu finden.“