Witten. . Dr. Carsten Rensinghoff verunglückte als Zwölfjähriger schwer. Jetzt leitet er ein Institut, das unter anderem Hirngeschädigte berät

Es war der Tag vor der gefürchteten Mathearbeit. „Mit Geometrie stand ich auf Kriegsfuß“, erinnert sich Dr. Carsten Rensinghoff. Der damals Zwölfjährige überlegte fieberhaft, wie er an der Arbeit vorbeikommen könnte. Und tatsächlich hat er sie nie geschrieben. Er wurde von einem Auto angefahren und schwer verletzt.

Den 28. Februar 1982 haben Rensinghoffs Mitschüler wahrscheinlich längst vergessen. Für ihn aber war es der Tag, der sein Leben veränderte. Vier Wochen lang lag er mit einem Schädel-Hirn-Trauma, beidseitigen Oberschenkelbrüchen und einer Unterschenkelfraktur auf der Intensivstation, zwei Monate in der Unfallchirurgie und weitere neun Monate musste er in einer Rehaeinrichtung im süddeutschen Gailingen verbringen – immer beseelt von dem Ziel, wieder in seine Klasse im Schiller-Gymnasium zu gehen.

„Das Schlimmste war, dass mir die Leute, die mich im Krankenhaus besucht haben, vorgegaukelt haben, dass alles wieder gut wird“, erinnert sich Rensinghoff. Da traf ihn die Erkenntnis, „dass ich noch so viele Therapien machen kann, mein Bein aber immer hinter mir herziehen werde“, besonders bitter.

Der Anschluss im Schiller-Gymnasium klappte nicht, Rensinghoff hätte in der 5 wieder anfangen müssen. In anderen weiterführenden Schulen in Witten konnte er auch nicht starten. Also kam er schließlich auf die Schule für Körperbehinderte in Langendreer. „Da saßen lebensbedrohlich erkrankte Schüler im Rollstuhl. Der Tod war an der Tagesordnung“, sagt Rensinghoff. Er blieb bis zur zehnten Klasse, wollte wieder zurück aufs Schiller, aber wieder klappte es nicht. Er war Kleingruppen-Unterricht gewohnt.

Rensinghoff wollte aber sein Abi machen und studieren. Also schrieb er ans Kultusministerium und fragte, wo er als Körperbehinderter — er hat eine halbseitige Lähmung — seinen Abschluss machen könne. Er kam an eine Schule in Köln und lebte in der Woche in einem Internat. „Da war ich nirgendwo richtig zu Hause.“ Aber das Abi klappte, das Studium der Sonderpädagogik in Köln ebenfalls. Für dieses Fach hat sich der heute 43-Jährige entschieden, „weil ich die Sonderschule revolutionieren wollte“. Er habe von Anfang an dafür votiert, dass Behinderte und Nicht-Behinderte zusammen lernen. Dieses Thema wird seit einigen Jahren unter dem Stichwort „Inklusion“ viel diskutiert. Doch damals, so Rensinghoff, habe noch niemand darüber geredet. Im Referendariat gab es Probleme, also konzentrierte er sich auf die Wissenschaft und machte seinen Doktor. Nach einer Stelle als wissenschaftlicher Assistent in Marburg gründete er 2008 ein Institut unter seinem Namen, das u.a. Menschen mit Hirnverletzungen berät.

Seine Erfahrungen hat er mittlerweile in zwei Büchern niedergeschrieben — in seiner Autobiographie „Wider die gesellschaftliche Ausschließung“ und „Behinderte Erfahrungen“, beide sind in diesem Jahr erschienen.

Eine seiner Thesen ist, dass Unfälle mit schweren Hirnverletzungen gerade im jugendlichen Alter häufig mit einem unbewussten Todeswunsch einhergehen. Bei ihm sei es damals so gewesen, sagt er. Viele Ängste hätten ihn bedrückt, er habe wohl einen Ausweg gesucht. Dass er überlebt hat, sei nicht beabsichtigt gewesen, er müsse es aber hinnehmen: „Das Leben als Behinderter ist kein Zuckerschlecken.“