Witten. . Im voll besetzten Ratssaal erläuterte die Stadtspitze interessierten Bürgern den Haushalt und die Folgen des Stärkungspakts.

Die gesamte Stadtspitze war angetreten, um interessierten Bürgern in einer Abendveranstaltung am Donnerstag den Haushalt, den Stärkungspakt und das Sparprogramm zu erklären. Der Wunsch von Bürgermeisterin Sonja Leidemann (SPD) nach einem vollen Ratssaal (66 Sitze und Besuchergalerie) ging in Erfüllung - knapp 100 Besucher kamen ins Rathaus.

Dass der Stärkungspakt zwei Seiten hat, man sieht es gerade bei der Kulturzuschuss-Debatte. Entziehen kann sich die überschuldete Stadt dem nicht, außerdem braucht sie das Geld. „Wir sind verpflichtet, am Stärkungspakt teilzunehmen“, so die Bürgermeisterin. Witten erhält daraus bis 2016 rund 7,2 Mio. Euro jährlich. Dafür muss die Stadt einen Sanierungsplan bis Ende Juni 2012 verabschieden. Wie nötig das Geld ist, machte die Bürgermeisterin klar: „Es steht nicht fünf vor zwölf, es steht fünf nach zwölf.“

Wie konnte es so weit kommen? Die Stadtspitze macht vor allem Kostenexplosionen im Bereich der Jugendhilfe und Familienpflege verantwortlich. Und: „Über 50 Millionen haben wir in den Solidarfonds ,Deutsche Einheit’ gezahlt“, so Sonja Leidemann. „Das war anfangs richtig, doch inzwischen gibt es ostdeutsche Kommunen, die so viel Geld auf der hohen Kante haben, dass sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.“

Im Juni muss der Haushalt stehen

Es ist wie mit der Steuererklärung: Irgendwann gibt es eine Frist. Für den aktuellen Haushalt 2012 ist es der 30. Juni. Spätestens bis zu diesem Samstag muss der Haushalt samt Sanierungsplan vom Rat genehmigt sein.

Was bis dahin geschieht:
Ab sofort: Der Haushaltsentwurf wird vom Kämmerer aufgestellt. Die Gemeindeprüfungsanstalt berät dabei die Stadtverwaltung. Parallel dazu können Bürger auf der Website www.witten.de Vorschläge machen, wo zu sparen und was unbedingt zu erhalten wäre.
16. März: Die Befragung der Bürger endet an diesem Freitag. Die Ideen werden gesammelt, die Fachverwaltung prüft die Anregungen und leitet die Vorschläge zur politischen Beratung weiter.
14. Mai: In dieser Ratssitzung wird der Entwurf des Haushalts eingebracht. Üblicherweise wird er dann an die Fachausschüsse verwiesen, die den jeweiligen, ihren Zuständigkeitsbereich betreffenden Teil (Soziales, Bauen, Verkehr usw.) analysieren und bewerten. Parallel dazu können Bürger, die sich durch den Haushalt in ihren Rechten beeinträchtigt sehen, Einwendungen geltend machen. Einen Bürgerentscheid über den Haushalt gibt es nicht.
25. Juni: Der Rat entscheidet in öffentlicher Sitzung über den Haushalt.Wird er verabschiedet, geht er zur Bezirksregierung nach Arnsberg.
30. Juni: An diesem Tag muss der Haushalt zur Prüfung und Genehmigung bei der Bezirksregierung Arnsberg vorliegen.

In diesem Jahr wird Witten dagegen 386 Millionen Euro Schulden haben, 2015 könnten es über 520 Mio sein. Dann würde Witten 22 Mio Euro allein für Zinsen aufbringen müssen; 2010 waren es 6,9 Mio Euro. Baurat Dr. Markus Bradtke: „Erstmals erkennt eine Landesregierung an, dass Kommunen in Not geholfen werden muss. Aber der Sanierungsplan muss mit Augenmaß gestaltet werden.“

Kostenerzeuger Nummer eins ist das Soziale. Zuständig ist der Erste Beigeordnete Frank Schweppe: „Die Anzahl der Eltern, die das Zusammenleben mit Kindern nicht gestalten können, nimmt zu.“ Greift das Jugendamt ein, kostet das Geld. Schweppe: „Es gibt ein Kind, dessen Betreuung uns 600 Euro am Tag kostet. Es ist im Grundschulalter. Keiner weiß, was aus ihm werden soll. Aber sollen wir es aufgeben?“

Rückbau von Infrastruktur

Kämmerer Matthias Kleinschmidt kündigte drastische Maßnahmen an: „Vom Haushaltsvolumen von 250 Millionen Euro sind rund 86 Millionen Fixkosten. Nur am Rest kann gespart werden. Der Konsolidierungsbedarf ist so hoch, dass alle Lebens- und Aufgabenbereiche auf den Prüfstand kommen. Wir werden uns auch mit dem Rückbau von Infrastruktur beschäftigen müssen.“

Absurdes Gemäkel

Es gab da einen Moment, als Sonja Leidemann nur mühsam die Fassung bewahrte: „Uns vorzuwerfen, dass wir die Bürger beteiligen, ist eine Fehlsicht der Dinge.“ Das war freundlich formuliert angesichts der Kritik an der zwar rudimentären, aber doch vorhandenen Bürgerbeteiligung. Niemand will sparen, aber wir alle müssen es tun. Jede gute Hausfrau überlegt sich vorher, worauf sie dann verzich- tet. Das kann nun jeder tun. Deshalb ist das Gemäkel an Bürgermitwirkung absurd. Es sei denn, es gäbe Gruppierungen, die sich gern als Empörungskanal der Bürger gesehen hätten, nun aber dieser Chance verlustig gehen. Eingespart, sozusagen.

Bernd Kassner

Auch deshalb will die Stadtspitze die Bürger zügig einbinden. Drei Wochen lang werden auf www.witten.de Vorschläge und Anregungen gesammelt, wo man noch sparen könnte und was Bürger als unverzichtbar ansehen. Gerade dieses Angebot aber stieß bei vielen Anwesenden auf harte Kritik. Bemängelt wurde zum einen das kurze Zeitfenster von nur drei Wochen, zum anderen wurde es als Zumutung empfunden, dass Bürger sagen sollen, was wegfallen könnte.

Maria Braukhoff: „Ich würde viel lieber zu verstehen geben, wo wir überhaupt keine Einsparungen ertragen können.“ Knut Unger (Mieterverein) forderte, „diese Spielchen zu lassen“ und regte Protest und Widerstand an. Dr. Richard Surrey forderte die Stadt auf, behutsamer mit der Einwerbung von Fördermitteln umzugehen, „das muss ja alles unterhalten werden“. Dietrich Kessel: „Mir fällt es schwer, mir vorzustellen, dass von Bürgern Ideen kommen, wo etwas einzusparen wäre.“