Witten. .
Donnerstagabend kehrt Ruhe ein im Johanna-Ruß-Haus. Nach dem traditionellen Krippenspiel nehmen die Eltern, die zugeschaut haben, ihre Kinder über die Feiertage mit nach Hause. Nur sieben von 20 jungen Bewohnern bleiben hier. Weil das ihr Zuhause ist.
Unter denen, die sonst heimatlos sind, ist eine Vollwaise, zwei der Kinder sind Halbwaisen und „der Rest darf nicht mehr zu den Eltern, weil sie dort schlecht behandelt wurden“, sagt Elsbeth Schneider (51), die die Einrichtung für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche seit 2003 leitet.
Wenn die anderen also am Abend weg sind und das Haus so leer ist, sitzt Valentin erst mal wie ein Häufchen Elend da. „Der Schmerz ist schon groß“, sagt die Leiterin, „aber die Kinder stützen sich dann gegenseitig“. Auch Valentin, der 15-Jährige mit Down-Syndrom, der seit seinem achten Lebensjahr hier ist, kriegt bald wieder bessere Laune. Schließlich liegen ein paar tolle Tage vor ihm: nicht nur Heiligabend, sondern auch sein Geburtstag am 1. Feiertag. Raclette wird es dann geben, weil Valentin sich das gewünscht hat.
Weihnachten im Heim – das klingt vielleicht schlimm für jene, die noch nicht hier waren und diese heimelige Atmosphäre gespürt haben, die in dem riesigen alten Gebäude herrscht, das so idyllisch am Hang in Herbede liegt. „Wir genießen die Zeit“, sagt Elsbeth Schneider. Und: „Die Kinder haben doch nur uns. Wir sind dann wie eine große Familie, noch mehr als sonst.“ Die Leiterin lebt mit ihrer eigenen Familie ständig im Haus, ebenso die Dorfmeisters: Beatrix (42), die als Beruf lächelnd „Mutter“ angibt, ihr Mann Andreas (43), der Heilerziehungspfleger, und der zehnjährige Sohn. „Wir sind immer ansprechbar“, sagt Elsbeth Schneider, „denn wir möchten nicht, dass die Kinder merken, das wir im Dienst sind“. Muss sie mal komplett abschalten, verlässt die Leiterin das Haus.
An Heiligabend werden Schneiders, Dorfmeisters und die sieben jungen Bewohner – Valentin, Jan-Niklas (7), Ferhat (19), Nadine (22), Sonja (14), Tanja (9) und Maximilian (12) – gemeinsam feiern. 15 Personen sind das dann. Erst singen sie und hören eine Geschichte. Gegen 18 Uhr gibt es ein Festmahl, das Beate Dorfmeister wie immer auf dem uralten Ofen kocht, der im Gemeinschaftsraum steht: Lammbraten mit Klößen und Rotkohl, danach Schoko-Auflauf. Der alkoholfreie Punsch dazu darf nicht fehlen.
Der schönste, weil feierlichste Moment sei der, sagt die Leiterin, wenn die Kerzen am Baum mit den Kinderaugen um die Wette leuchten. Und dann fliegen die (Papier-)Fetzen. Denn bis zu diesem Tag glich das Büro der Leiterin wochenlang einem Geschenkedepot: „Der einzig sichere Ort“, schmunzelt Elsbeth Schneider. 35 Euro pro Kind sind für Präsente vorgesehen. Dazu kommen Spenden, in diesem Jahr zum Beispiel 25 Euro pro Kind von einer Supermarktkette. Davon haben die Mitarbeiter Bücher gekauft und Spiele, CDs und Legosteine. Und sicher ist auch die Krawatte dabei, die auf Valentins Wunschzettel steht. „Die Kinder sind wahnsinnig dankbar für alles, dass sie kriegen, und wenn es ein neuer Schlafanzug ist“, sagt Elsbeth Schneider.
Der Baum im Heim, er ist geschmückt mit Kugeln, Strohsternen, Äpfeln, echten Bienenwachskerzen und frischen roten Rosen. Wenn die vertrocknet sind, dann kehren die anderen Kinder bald zurück in ihr Heim. Und im Haus wird’s wieder lauter.