Witten.

Nachträglich haben Schüler der Holzkampschule ihrem Mitschüler Hanife zum Geburtstag gratuliert. Der Zehntklässler liegt seit Herbst im Wachkoma.

„Hanife gehört zu uns – und das bedeutet, dass wir uns auch weiter um ihn kümmern“, drückt Klassenlehrer Jörn Obenhaus die Stimmung an der Holzkampschule aus, wo Hanife Bozkurt bis September die zehnte Klasse besucht hat.

Jetzt reisten Mitschüler, Lehrer und Freunde aus dem Fußballverein von Witten und Dortmund ins oberbergische Neuenothe, um in der Pflege- und Therapiestation des Bergneustädter Vereins „Patienten im Wachkoma (PIW e.V) den Geburtstag von Hanife nachzufeiern. Am 27. April ist der beliebte Schüler und begeisterte Fußballspieler 16 Jahre alt geworden.

Seit dem 23. September liegt Hanife im Wachkoma. Die Einnahme eines Antibiotikums hatte einen allergischen Schock bei ihm ausgelöst. Nach einer Wiederbelebung blieb Hanife, der nach seinem Abitur so gerne Polizist geworden wäre, im Wachkoma.

Wachkoma - das weckt Assoziationen von bewusstlosem Dahinvegetieren, an menschliche Hüllen, die zwar Schlaf- und Wachphasen haben, Nahrung aufnehmen und verdauen können, aber ansonsten ohne Empfindung und Selbstbewusstsein am Rande des Todes dahindämmern. Für Hanifes Familie, für seine Lehrer und Freunde ist Hanife ein Mensch, der fühlen und empfinden kann und für dessen Genesung oder Wohlbefinden alles getan werden muss.

Auch für Co-Klassenlehrerin Angelika Kaplinowski, die Hanifes Eltern auf die deutschlandweit einmalige Einrichtung für Patienten im Wachkoma machte, und für Schulleiter Dietmar Kurz war es Herzenssache, Hanife zu besuchen.

In einem großen Zelt im Garten warteten Würstchen und türkische Köstlichkeiten auf die Gäste. Ein Schüler hatte sogar ein Keyboard mitgebracht. Auch Hanifes Ex-Fußballtrainer und seine Freunde aus dem Sportverein, Nicolas Altmeyer, Talena Roggenkämper und Jan Knollenberg, waren der Einladung von Hanifes Familie zu dieser ungewöhnlichen Geburtstagsfeier gefolgt. „Wir haben Hanife auch schon auf der Intensivstation besucht, ihm von früher erzählt und einfach an seinem Bett „Mensch-ärgere-dich nicht“ gespielt. Man fühlt sich so hilflos und kann kaum glauben, dass das alles wirklich wahr ist“, berichten die drei.

„Soziale Kontakte sind für Hanife sehr, sehr wichtig. Deshalb haben wir die Feier hier möglich gemacht“, sagt Hrachya Shaljyan, der leitende Arzt der Wachkomaeinrichtung. Gemeinsam mit dem Pflegepersonal ist er überzeugt, dass Menschen im Wachkoma keineswegs „leblose Hüllen“ sind, und nach dem Motto „satt und sauber“ in einem Heim „verwahrt“ werden sollten.

Hanifes Eltern, Enver (41) und Aynur (40) Bozkurt, sind begeistert, wie man „im Trainingslager für das Leben“ bei PIW mit Hanife umgeht „Die Leute hier behandeln ihn, als wäre er der eigene Sohn“, so Hanifes Vater. Zu der „aktivierenden Bezugspflege“, die Hanife seit einigen Wochen bei PIW e.V. erlebt gehören Logotherapie, Physiotherapie und tägliches Duschen, regelmäßiges Aufsetzen und jede Menge Körperkontakt und Ansprache. Stehen und Fahrrad fahren sollen Kräfte in ihm wecken.

Wie alle Patienten in der „Wachkoma-WG“, wie Pfleger Karl Heinz Andree die Einrichtung manchmal nennt, erhält Hanife keine industrielle Sondennahrung, sondern frisch zubereitete Kost. Zur Therapie gehört auch das allmähliche Absetzen der Medikamente, mit der Wachkomapatienten häufig ruhig gestellt werden.

Hanifes Eltern sind von ersten Fortschritten überzeugt: „Er reagiert, wenn man ihn anspricht – er verfolgt uns mit den Augen“, freut sich sein Vater. Von einer speziellen Wassertherapie erhofft er sich in den nächsten Wochen eine weitere Verbesserung. „Wir können nicht erwarten, dass Hanife plötzlich komplett wach wird“, dämpft der Arzt zu große Erwartungen. Zwar hat er just am Tag nach der Geburtstagsfeier für Hanife erlebt, dass ein von anderen längst abgeschriebener Patient, plötzlich wieder spricht. Aber das sind Ausnahmen, die dennoch Hoffnung machen.

Realistisch erscheint dagegen, dass Hanife am normalen Leben seiner Familie zumindest wieder Anteil nehmen kann. Ihn in ein Pflegeheim zu geben, wie es in der Reha-Klinik vorgeschlagen wurde, in der Hanife die ersten Monate behandelt wurde, hält der Arzt für keine gute Lösung.: „So ein junger Bursche gehört nicht in ein Heim sondern heim, nach Hause“, sagt er.

Bis es soweit ist, wird noch etliche Zeit vergehen. Die Angehörigen müssen und wollen alle pflegerisch-therapeutischen Maßnahmen lernen, um Hanife nach Hause holen zu können. Dazu ist auch eine größere Wohnung für die fünfköpfige Familie dringend nötig. Deren Finanzierung allerdings ist genauso schwierig wie das Aufbringen der Fahrkosten zu Hanife nach Neuenothe. Denn der türkischstämmige Enver Bozkurt, der perfekt deutsch spricht, lebt von Harz IV und sucht dringend Arbeit. Sogar eine Lehre würde der 41-Jährige machen, um selbst für sich und seine Familie sorgen zu können.

Einstweilen ist er „unendlich dankbar“ für die Hilfe, die er und seine Familie erfahren haben. Hanifes Schule bringt die Kosten für die Wassertherapie auf. Ulrich Bienfait von der Artur und Liselotte Dumcke Stiftung aus Dortmund überreichte als „Geburtstagsgeschenk“ eine Spende von 3000 Euro. Und in den Wittener Kirchengemeinden Annen und Stockum kamen bei Konfirmationskollekten über 600 Euro zusammen. „Dort haben wir auch für Hanife gebetet“, berichtet seine Schwester Aysin (15), für die es so etwas wie ein Wunder ist, dass ihr Bruder trotz anfänglich minimaler Überlebenschancen überhaupt noch lebt. „Ich wünsche mir so sehr für ihn, dass es ihm besser geht Wir geben die Hoffnung nicht auf.“