Witten. .
Kurz hinter der Ruhrbrücke in Bommern, wo die Autos im werktäglichen Feierabendverkehrsstau stehen, liegt Wittens schönstes Geheimnis.
Bitte sagen Sie es keinesfalls Auswärtigen aus Berlin, Frankfurt oder Stuttgart weiter. Lassen Sie diese Leute um Himmels Willen in dem Glauben, das Ruhrgebiet mit Witten mitten drin sei rußig, finster und grau. Erzählen Sie es keinem: In der Uferstraße ist die Idylle zu Hause.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich der Uferstraße zu nähern. Eine schöne ist, in Heveney oder an der Burgruine Hardenstein in die „Schwalbe“ zu steigen, die auch alltags überraschend gut gefüllt ist. Dann könnte man, wie Marlis Kittel (63), mit „dem schwimmenden Café, das den besten Kuchen von Witten hat“, bis zur Uferstraße schippern, wo die Schwalbe unten am Ende des steilen Aufstiegs anlegt. „Das ist ja wunderschön hier“, staunt Marlies Kittels Besuch Anita Lettau (57) aus Bremervörde, und wir werden diesen Satz noch öfter zu hören bekommen.
Anita Lettau wird das natürlich weitererzählen, und Touristen von werweißwoher werden kommen. Aber die Dampflok, die gegenüber an dem liebevoll restaurierten Haltepunkt Witten-Bommern an den Fahrtagen Halt macht, die hat sie nicht gesehen und kann deshalb auch nicht weitersagen, dass die Tour nach einer einstündigen Ruhrschiffahrt auch noch per Dampfross weitergehen kann. Sonst kämen ja womöglich noch mehr Touristen.
Die würden dann am blau-weißen Tor des Kanu-Ski-Clubs Witten vorbeispazieren, vermutlich so etwa bis zur alten Bahnunterführung, die nur 3,20 Meter Raum für die Straße darunter lässt. Erstaunlich viel Verkehr ist hier, ein Kleinlaster samt Anhänger rumpelt lautstark über das Kopfsteinpflaster, und das ist dann spätestens der Moment, wo auswärtige Touristen abdrehen und weggehen würden.
Glück gehabt.
Denn hier beginnt das verborgene Märchenland. Wir gehen nicht unter der Brücke her, sondern geradeaus weiter. Wie ein kleines Schlösschen ragt ein Haus mit einem schmucken Turm in die Straße hinein, und wer hier um die Ecke biegt, sieht schöne alte schieferverkleidete und aus Fachwerk errichtete Häuser, in deren Vorgärten Rosen, Klatschmohn und Stiefmütterchen blühen. Kurz bevor der Eisenbahnviadukt die Ruhr und dann die Uferstraße überspannt, schaut ein Pferd neugierig aus einem Pferdestall, stellt die Ohren spitz auf und genießt die Sonne.
Jetzt werden ja wohl wirklich keine Auswärtigen mehr kommen. Gut. Dann schauen wir kurz, wie sich gegenüber auf der anderen Ruhrseite das Bergerdenkmal vom Hohenstein durch das Grün der Bäume protzt. Dann atmen wir tief ein, denn der wilde Holunder blüht und duftet. Und dann treffen wir den Mann, der den schönsten Beruf in Witten hat.
Jan Haba ist 53 Jahre alt und stellvertretender Fährmann auf der Seilzugfähre, die von der Uferstraße zur privaten Ruhrinsel führt. Jan Haba steht da mit nacktem gebräunten Oberkörper, bedient mit Muskelkraft den Seilzug, Pascal Piontek (23) aus Tübingen, der in Witten seine Freundin besucht, geht ihm zur Hand. „Das ist superschön hier“, staunt der junge Schwabe, „total idyllisch und ruhig“, und wahrscheinlich wird er es auch noch weitererzählen da unten. Und dann kommen die ganzen Leute hier hin, die alle wie Jogi Löw sprechen.
Die sehen dann den Campingplatz Steger und die kleinen verträumten Seitenarme der Ruhr, Inselchen, Ruderboote, bettelnde Enten. Wenn man da so in der Sonne auf dem Anleger steht, dann hat man auf einmal Zeit, die Enten zu zählen, 21 waren es, die eine oder andere dumme Gans nicht mitgerechnet. Dann legt man den Notizblock weg, steckt beide Hände tief in die Hosentaschen, schaut zu, wie bunte Fähnchen an den Wohnwagen wehen, irgendwo dahinten rauscht ein Zug nach Wetter, die hektische Welt hinter der Ruhe, es gibt sie noch, da draußen, ganz weit weg...
Und bitte: Sagen Sie das alles auf gar keinen Fall weiter.