Witten. Der Sozialstaat ist im Moment in aller Munde. Gerade die Politik debattiert ihn derzeit fast täglich. In welche Situation Geringverdiener geraten können, die ein krankes Kind zuhause haben, davon erzählt der Fall der Familie Irrgang aus der Husemannstraße in Witten.
Anna-Lena ist eigentlich ein ganz normales Mädchen. 16 Jahre jung, sie trifft sich gerne mit ihren Freunden, geht auf die Waldorfschule und mag Pizza oder Tortellini. Eigentlich. Denn seitdem bei ihr nicht nur Diabetes, sondern auch Zöliakie festgestellt wurde, ist für Anna-Lena vieles nicht mehr wie sonst. Gerade beim Essen muss sie aufpassen, nicht nur wegen der Zuckerkrankheit.
Zöliakie ist eine Darmerkrankung. Die Jugendliche verträgt nichts, was Weizen und den Eiweißkleber Gluten enthält: also weder Pizza noch Nudeln oder gängige Brotsorten. Das Mädchen braucht glutenfreie Nahrung. Aber die hat ihren Preis. Mutter Marlies beziffert den Mehrbedarf monatlich mit 150 bis 170 Euro. „Glutenfreie Nudeln kriegt man nicht im Aldi.” Im Reformhaus können sie 2,98 Euro kosten. Gut, Brot kann man selbst backen. Aber auch das ist nicht preiswert. „Ein Kilo Mehl kostet fünf Euro, die kleine Packung drei.” Und Kekse für zwischendurch, damit Anna-Lena was zu knabbern hat, wenn Unterzuckerung droht, sind mit zwei Euro auch nicht gerade billig.
Krankenkasse übernimmt spezielle Lebensmittel nicht
Geld, das ihre allein erziehende Mutter nicht hat. Drei Kinder im schulpflichtigen Alter und ein Ex-Mann, der für die teure Kost nichts dazuschießen kann: Marlies Irrgang weiß nicht mehr weiter. Ihre Krankenkasse, die IKK Nordrhein, übernimmt die speziellen Lebensmittel nicht. „Die sagen, das sei Diätnahrung, kein Heilmittel.” Die 36-Jährige sieht das anders. Sie spricht von Heilmitteln für den Darm.
Denn wenn Anna-Lena den strengen Diätplan nicht befolgt, können die Folgen dramatisch sein: Durchfall, Erbrechen und schließlich sogar Unterzuckerung, weil der Darm die nötigen Nährstoffe nicht aufnimmt. Anna-Lena: „Dann fühle ich mich schlecht, total schlapp und müde.” Da sie mit ihrer Zuckererkrankung noch nicht richtig eingestellt ist – eben weil sie die Diät nicht hundertprozentig einhalten kann – passiert ihr das immer wieder. Sie habe inzwischen die letzte Vorstufe vor Darmkrebs erreicht.
Die IKK Nordrhein würde der Familie nach Angaben ihres Pressesprechers Michael Lobscheid gerne helfen, dürfe laut Sozialgesetzbuch die glutenfreie Nahrung aber nicht bezahlen. Lobscheid: „Eben weil es Nahrung und kein Heil- oder Hilfsmittel ist.” Ohne viel Hoffnung zu machen, so Lobscheid, könne man den Fall noch mal dem Medizinischen Dienst zur Begutachtung vorlegen.
Pflegegeld wurde abgelehnt
Die Familie hat auch Pflegegeld beantragt, was ebenfalls abgelehnt wurde. Der Medizinische Dienst sieht lediglich einen Pflegebedarf von vier Minuten und 47 Sekunden am Tag. Um in Pflegestufe eins zu kommen, müssten es 45 Minuten sein. Dass Anna-Lenas Mutter alle zwei Stunden den Insulinspiegel messen muss, wird gar nicht anerkannt.
Wäre sie Hartz-IV-Empfängerin, meint Marlies Irrgang bitter, könne sie Mehrbedarf geltend machen. „Der Fehler ist wohl, dass ich arbeiten gehe.” 20 Stunden pro Woche ist sie als Reinigungskraft tätig ist. Sie verdient 700 Euro im Monat. Michael Gonas von der Job-Agentur rät ihr, zumindest zumindest mal einen Antrag zu stellen. Wenn ein Arzt die kostenaufwändige Ernährung bescheinige, könne es einen Zuschlag zum Regelsatz geben – wie gesagt bei Anspruch auf Hartz IV.
„Überall nur Absagen, keiner fühlt sich verantwortlich”, sagt Anna-Lena traurig. In ihrer Not hat die Mutter sogar schon bei Wohlfahrtsverbänden und dem Lions-Club wegen einer Spende angefragt – bisher allerdings vergeblich.