Witten/Hattingen/Sprockhövel/EN-Kreis. Das Bürgergeld wird hitzig diskutiert. Fällt die Hilfe zu üppig aus, sind die Sanktionen zu lasch? Das sagt der Jobcenterchef für den EN-Kreis.

Stärkere Sanktionen fordert der Essener Sozialdezernent im Zusammenhang mit dem Bürgergeld. Es biete einigen Empfängern zu wenig Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Auch die Politik diskutiert über die staatliche Hilfe (früher Hartz IV), die ab Januar von 502 auf 563 Euro erhöht wird. Und was sagt das heimische Jobcenter zu der Debatte?

Nun, Heiner Dürwald, der Leiter des Jobcenters für den EN-Kreis mit Witten, ist keiner, der Öl ins Feuer gießt. Er bestätigt zwar, dass die Sanktionsquote ebenso gesunken ist wie die Zahl der Vermittlungen. Doch deshalb solle man das Bürgergeld ein halbes Jahr nach seiner Einführung nicht gleich in Frage stellen, sagt der 65-Jährige. Er plädiert dafür, diesem erst einmal eine Chance zu geben. „Wir brauchen weniger ständige Infragestellung seitens der Politik. Was wir benötigen, ist Kontinuität“, so Dürwald.

Wir brauchen weniger ständige Infragestellung der Politik
Heiner Dürwald

Allerdings muss er einräumen, dass inzwischen weniger Leistungsempfänger der Einladung zu einem (Vermittlungs-) Gespräch folgen. „Wir haben größere Schwierigkeiten, die Leute zu erreichen.“ Die Rede ist von „zehn Prozent weniger als vor der Corona-Zeit“. Bei den Erwachsenen erscheinen seinen Angaben zufolge etwa 50 bis 60 Prozent zum Termin im Jobcenter, bei Jugendlichen seien es „um die 50 Prozent“.

Vermittlungen gehen um zehn Prozent zurück

Die Vermittlungsquote ist ebenfalls um etwa zehn Prozent zurückgegangen, von 2672 (Oktober 2022) auf 2404 in diesem Oktober. Zum Jahresende werden etwa 3000 erwartet. Doch auch hier will Dürwald nicht allein das neue Bürgergeld dafür verantwortlich machen, weil es womöglich weniger Anreize bietet, eine Arbeit aufzunehmen.

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Seiner Ansicht nach wird „allein der finanzielle Aspekt“ überschätzt. „Es gibt oft Gründe, warum die Menschen einen Job ablehnen.“ Zum Beispiel aus Angst, die „Sicherheit mit Wohnung, Heizung und dem Regelsatz gegen den Wechsel auf einen eher unsicheren Arbeitsmarkt einzutauschen“. Hinzu kämen Kinderbetreuungszeiten und - zugegebenermaßen - weniger beliebte Jobs in Mindestlohnnähe, etwa in der Gastronomie oder im Handel, mit dazu noch schlechten Arbeitszeiten. Auch die Umstellung auf eine neue EDV und eine gewisse Konjunkturelle in Helferberufen in der Metall- und Elektroindustie spielten dabei eine Rolle, warum die Vermittlungsquote gesunken sei.

9500 Empfänger in Witten

Rund 9500 Menschen beziehen in Witten Bürgergeld, das sich früher Hartz IV nannte. Gegenüber dem Vorjahr sind das gut 300 Personen mehr. Im EN-Kreis werden insgesamt 27.150 Empfänger gezählt, Kinder inklusive, ein Anstieg um knapp 2000.

Der aktuelle Regelsatz erhöht sich ab Januar für Alleinstehende von 502 auf 563 Euro, für Paare (Bedarfsgemeinschaften) pro Partner von 451 auf 506 Euro, für Jugendliche von 420 auf 471 Euro und für Kinder (bis fünf Jahre) von 318 auf 357 Euro und (6 bis 13 Jahre) von 348 auf 390 Euro.

Als „erwerbsfähig“ gelten in Witten 6900 Bezieher (2022: 6700), kreisweit gut 19.000 Leistungsempfänger (2022: knapp 18.000). Insgesamt dürften sich die Kosten kreisweit im nächsten Jahr auf rund 300 Millionen Euro erhöhen (2023: rund 264 Millionen)

Aber was tut seine Behörde, wenn sich jemand verweigert? Stimmt der Vorwurf, dass diese Klientel immer seltener mit Konsequenzen zu rechnen hat? Tatsächlich ist die Sanktionierungsquote ebenfalls rückgängig. Im Sommer lag sie bei 0,3 Prozent gegenüber vier Prozent zu früheren Jahren. Heute muss tatsächlich nur noch ein Zehntel mit Leistungsminderungen rechnen. In absoluten Zahlen heißt das: In Witten gab es zwölf Sanktionen (0,2 Prozent), im ganzen Kreis 55 (0,3 Prozent).

Mehr als 27.000 Menschen im EN-Kreis bekommen Bürgergeld, darunter fast 9500 Wittener.
Mehr als 27.000 Menschen im EN-Kreis bekommen Bürgergeld, darunter fast 9500 Wittener. © epd | Heike Lyding

„Das Sanktionsrecht wurde deutlich abgeschwächt“, sagt Dürwald. Was politisch so gewollt sei. „Wir möchten mit den Leuten auf Augenhöhe arbeiten, nicht mit Drohungen.“ Allerdings seien Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent immer noch möglich. Angesichts des mehrstufigen Verfahrens „mit vielen Anschreiben“ und Anhörungen hält der Jobcenterleiter dies aber für ein eher stumpfes Schwert, weil „ineffektiv“.

Bleibt welches Fazit? „Die Probleme kann man nicht wegdiskutieren“, sagt Heiner Dürwald. Tatsächlich gebe es eine hohe prozentuale Steigerung des Bürgergeldes (zwölf Prozent) und man müsse „weiter gucken, ob die Berechnungsformel stimmt“. Natürlich dürfe der Abstand zum Niedriglohnsektor nicht zu gering werden, was beim zusätzlichen Bezug von Kinder- und Wohngeld möglich sei. Die jetzige Erhöhung sei aber verfassungsrechtlich gut begründet, gerade nach den Jahren mit hoher Inflation, die ärmere Menschen besonders trifft.

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Dürwald empfiehlt aber, erst einmal abzuwarten. Er verweist etwa auf Joboffensiven von Land und Bund. „Wir versuchen auch, als Jobcenter besser zu vermitteln, gerade Flüchtlinge. Dazu brauchen wir aber auch die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen.“ Übrigens: Die Vermittlungsquote unter Flüchtlingen sei prozentual höher als unter den übrigen Leistungsempfängern.