Witten. Keiner will ihn, jeder hat ihn: Eine Wittener Expertin erklärt, warum wir Stress empfinden und wie wir lernen können, besser damit umzugehen.

Stress gehört zum Leben dazu, aber wenn wir zu viel davon haben, kommen wir an unsere Grenzen. Was Stress ist, weiß auch Bettina Langner. Die Wittenerin arbeitete 16 Jahre lang als Erzieherin, bevor sie sich entschied, aus dem Beruf auszusteigen. Seit 2009 ist sie psychologische Beraterin, hat sich in Witten mit dem „Stress Studio“ selbstständig gemacht. In ihren Seminaren und Kursen spricht sie über Themen wie Stressprävention und -Bewältigung. Uns erklärt sie im Interview, was hinter dem Stress steckt und wie wir es langfristig schaffen, damit besser umzugehen.

Beginnen wir doch mit einer Definition: Was ist Stress?

Stress ist ein Alarmzustand, eine Art Warnsignal. Er versetzt uns im Bruchteil einer Sekunde in einen Flucht- oder Kampfmodus. Das ist evolutionär bedingt: Früher, in der Urzeit, mussten wir kämpfen, sind geflüchtet und konnten wieder zur Ruhe kommen. Heute wachen wir auf, sind Sekunden später schon auf 180 und der Tag hat noch gar nicht richtig begonnen. Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen dem Säbelzahntiger, vor dem unsere Vorfahren sich fürchteten, und dem Papierberg am Schreibtisch.

Womit wir schon bei der Frage wären: Was stresst uns Menschen heutzutage so sehr?

Das ist sehr individuell. Aufgrund meiner Biographie empfinde ich vielleicht eine Situation als belastend, die mein Gegenüber kalt lässt. Dabei ist es die eigene Bewertung, die uns stresst; Glaubenssätze, die wir von unseren Familien mitbekommen haben und die uns Jahrzehnte später das Leben schwer machen.

Ich bin nur etwas wert, solange ich etwas leiste. Ist das so ein Glaubenssatz?

Ja, und auch so etwas wie: Ich muss es allen recht machen und immer perfekt sein. Auch da merkt man die frühkindliche Prägung: Wenn wir früher etwas gut gemacht haben, lieb waren, wurden wir gelobt. Auch Jahre später wollen wir anerkannt werden, zur Gemeinschaft gehören, haben Angst davor, nein zu sagen, weil wir die Zuneigung der anderen nicht verlieren wollen. Sich des Zusammenspiels zwischen äußerem Reiz und innerer Bewertung bewusst zu werden, ist das A und O in der Stressbewältigung.

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Wir halten fest: Stress beginnt im Kopf …

… und da liegt auch die Lösung. Wir identifizieren uns mit unseren Glaubenssätzen, reagieren immer gleich und sagen dann: „So bin ich eben.“ Aber wir können das verändern, es muss nicht so bleiben.

Wie kann ich also lernen, besser mit dem Stress umzugehen?

Indem ich mich mehr auf mich konzentriere. Wir halten in unserem Alltag überhaupt nicht mehr inne und hinterfragen: Was geht in mir vor? Was genau stresst mich? Ist das wirklich so schlimm, wie ich denke? Ich kann mich auch fragen: Was könnte im besten Fall passieren, was im schlimmsten? Auf mein Umfeld, etwa meine Kollegen oder den Stau auf der Autobahn, habe ich wenig bis keinen Einfluss. Was ich aber kontrollieren kann, ist, wie ich eine Situation bewerte und reagiere. Das Gehirn ist blitzschnell. Wenn ich eine gewohnte Stressreaktion ändern möchte, muss ich mich dabei ertappen und die Reaktion unterbrechen. An einer roten Ampel stehen und aus Frust ins Lenkrad zu beißen – das kostet nur Energie bringt mich nicht weiter.

Was soll ich sonst machen?

Ohne Achtsamkeit geht es nicht. Probieren Sie es doch mal selbst: Legen Sie alles beiseite und machen Sie mal drei Minuten nichts. Wie ist das? War es angenehm oder hat es Sie beunruhigt? Für viele ist es schwer, anzuhalten und hinzuschauen. Wir sind es gewohnt, zu funktionieren. Aber das geht nicht lange gut. Ich vergleiche das gerne mit einem Wasserball, den man versucht, unter Wasser zu drücken: Irgendwann kommt er nach oben geschossen. Dann stehe ich im Supermarkt und bekomme eine Panikattacke.

Klingt alles, als hätten wir verlernt, auf uns selbst zu hören. Woran merke ich, dass der Stress zu viel wird?

Unser Körper liefert uns ständig Signale, wir gehen oft einfach darüber hinweg. Gelegentlicher Stress motiviert, dann kommen wir in den Flow, da werden sogar positive Hormone ausgeschüttet. Aber eine Dauerbelastung schadet uns. Typische Anzeichen sind Nervosität, Unruhe, auch körperliche Dinge wie Kopfschmerzen, Magenbeschwerden, Schlafprobleme. Das geht bis hin zur Erschöpfung, Depression oder Burnout. Dauerstress sollten wir ernst nehmen.

Stichwort Resilienz: Kommen manche Menschen besser mit Stress klar als andere?

Eine große Rolle spielt der Glaube an die Selbstwirksamkeit. Ein resilienter Mensch ist überzeugt davon, dass er etwas tun kann, um mit dem Stress umzugehen und die Krisen im Leben zu meistern. Bin ich pessimistisch und sehe keine Handlungsmöglichkeiten, fühle ich mich ohnmächtig und hilflos. Ein gutes Bespiel dafür sind die derzeitigen Krisen. Ein Mensch mit hoher Selbstwirksamkeit schaut mehr auf sich, bewirkt etwas im Kleinen, indem er sich etwa fragt: Wie geht es mir damit? Wie kann ich mit der Angst umgehen? Was kann mir da helfen? Motto: Ich habe schon ganz andere Dinge geschafft, ich kriege das schon hin!

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Kommen wir zu ein paar konkreten Tipps: Was kann ich tun, um runterzukommen?

Selbstfürsorge ist da das Stichwort. Ich kann eine Liste führen mit Dingen, die mir guttun und dann versuchen, etwas davon so oft es geht in meinen Alltag einzubauen: den Kaffee am Morgen, einen angenehmen Duft, Musik. Kleine Genuss- und Erholungsmomente. Fragen Sie sich in stressigen Momenten mal, was Sie einem Freund in dieser Situation raten würden. Mit Menschen, die uns am Herzen liegen, gehen wir verständnis- und liebevoll um. Warum nicht mit uns selbst? Vermeiden Sie auch Worte wie z.B. „immer“ und „nie“. Überlegen Sie: Ist das wirklich so? Mache ich wirklich „immer alles falsch“? „Gelegentlich“ oder „ab und zu“ klingt da schon viel realistischer und netter. (lacht)

Viele von uns verbinden vor allem die Arbeit mit Stress. Was raten Sie für mehr Entspanntheit im Arbeitsalltag?

Jede Gelegenheit und jeden Ort für eine kleine Auszeit zu nutzen und die Arbeit bewusster von der Freizeit zu trennen. Abgrenzung, also den Feierabend bewusst zu gestalten, um den Übergang in die Freizeit zu markieren. Eine Tätigkeit für den Übergang könnte zum Beispiel die Heimfahrt sein oder im Homeoffice das Aufräumen des Schreibtischs. Es hilft aber auch, sich seine Erfolge bewusst zu machen wahrzunehmen, dass man von seiner To-Do-Liste mit 20 Dingen heute 18 erledigt hat, anstatt mit dem Gedanken an die zwei übrigen ins Bett zu gehen.

Sie lehren Ihre Klienten auch Stressnotfall-Methoden. Welche wären das zum Beispiel?

Das simpelste ist tiefes Atmen, also so tief wie möglich einatmen und mit Druck ausatmen, um die angestaute Energie loszuwerden. So gebe ich meinem Gehirn das Signal: Fahr runter, ich muss gerade nicht um mein Überleben kämpfen. Mit Zählen kann man zusätzlich die Wahrnehmung ablenken: Vier Sekunden einatmen (1,2,3,4), Atem anhalten (5,6,7,8), ausatmen (1,2,3,4,5,6,7). Ich kann auch über die Muskulatur ein Signal geben. Ich nenne das den „Ganzkörper-Panzer“. Ich spanne alles an, was geht, halte die Spannung und lasse los. Oder denken Sie an etwas schönes, machen Sie eine Traumreise: Der Körper folgt den Gedanken, wenn ich zwei, drei Minuten zu mir komme, bringt das schon viel.

Haben Sie noch einen letzten Rat?

Ich halte es mit Albert Einstein, der sagt: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Wenn ich darauf warte, dass sich mein Umfeld ändert, warte ich lange. Ich muss selbst etwas gegen meinen Stress tun.

Wer mehr über Bettina Langner, ihre Arbeit, Beratung und Publikationen erfahren möchte, findet weitere Informationen unter www.das-stress-studio.de.