Witten. Nur wenige Stunden noch, dann ist der Real in Witten Geschichte. Die Kunden haben den Laden quasi geplündert. Unglaublich, was am Freitag abging.
Süßes, Soßenbinder, Paniermehl, Knabberzeug und noch viel mehr: Die beiden Einkaufswagen, die Rafal Lewicki (45) und seine Frau Jadwiga (38) an diesem Vormittag durch den Real schieben, sind voll bis obenhin. Zu verlockend sind die Rabatte an diesem letzten Freitag (27.5.), an dem der Markt in Witten-Annen noch geöffnet hat. Der Ansturm auf die Schnäppchen nimmt ungeahnte Ausmaße an. Das macht nicht nur manche Kunden fassungslos.
„Es ist deprimierend zu sehen, was hier gerade abgeht“, sagt Ulrike Mindmich, die regelmäßig aus Herdecke nach Annen fährt, um ihren Einkauf zu erledigen. „Ich habe hier ja alles nah beieinander“, so die 72-jährige Rentnerin. Noch nie habe sie in einem derart leeren Laden eingekauft. „Ein verrückter Tag ist das. Und total deprimierend.“ Sie habe stets das freundliche Personal und das gute Sortiment geschätzt.
Viele Regale im Wittener Markt sind längst leergekauft
Draußen rangeln die Kunden um die letzten Einkaufswagen. Manche Familien haben im Laden fünf, sechs davon um sich versammelt – und längst vollgepackt. Gerade jetzt, wo die Inflation alles so teuer macht, sind Angebote wie diese ein gefundenes Fressen. Fruchtgummitüten für 20 Cent, Kaffee für einen Euro. 600 Gramm abgepacktes Hähnchen (noch einen Tag haltbar) für zwei statt für über vier Euro.
Viele Regale sind längst verwaist. Elektro- und Sportartikel oder Spielwaren: alles leer. Die Frischetheken: längst geschlossen. Gewürze oder WC-Steine: Fehlanzeige. Neue Ware komme nicht mehr, sagt Geschäftsführer Dirk Diening (45), der selbst kaum fassen kann, was in „seinem“ Real an diesem Tag abgeht. Er habe schon mal einen Markt in Plettenberg zugemacht, „aber hier ist alles viel extremer“.
Wittener Marktleiter: „Stammkundschaft ist kaum noch da“
Geradezu auf der Lauer gelegen hätten die Menschen, als am Morgen das bisschen Werbeware noch günstiger wurde. Kaffee, Chips, Sekt – „alle haben sich draufgestürzt“. Waschmittel, sagt Diening, sei in einer Sekunde weggewesen. „Die nehmen alles mit.“ Stammkundschaft sei allerdings jetzt kaum noch da. Auch ihm gehen die letzten Tage sichtlich nah.
„Es ist eine schlimme Phase und total anstrengend.“ So gerne er den Real am Standort Annen geleitet habe – nun sei er froh, dass es bald vorbei ist, sagt der Chef. Viele der 85 Angestellten hätten inzwischen eine Perspektive in anderen Supermärkten. Manche würden aber auch erst mal mit der Abfindung und Freistellung das Erlebte ein wenig sacken lassen. Er selbst wird einen der 60 Real-Märkte der SB-Warenhauskette leiten, die der Investor Tischendorf noch unter dem alten Namen weiterführt.
Streit am Süßwarenregal droht zu eskalieren
Während Dirk Diening erzählt, ertönt plötzlich lautes Geschrei. Am Süßwarenregal sind sich zwei Familien in die Haare geraten. Ein Kind weint. Eine Mitarbeiterin versucht, die Streitenden zu beruhigen. Doch die Situation droht zu eskalieren. Der Marktleiter ruft vorsichtshalber die Polizei. Zum ersten Mal ist das in diesen letzten Tagen nötig. „Wer weiß, was passiert, wenn die draußen sind.“ Zum Glück scheinen sich alle Beteiligten bald wieder beruhigt zu haben. Der Polizeiwagen vor der Tür schreckt offenbar ab.
Allerletzte Öffnung am Samstag
Der Real an der Annenstraße öffnet an diesem Samstag zum allerletzten Mal seine Türen. Aber nur kurz: von 7 bis 9 oder maximal 10 Uhr, so Marktleiter Dirk Diening.
Ab Mittwoch (1.6.) räumt dann ein Verwerter innerhalb von zwei bis drei Wochen die restlichen Regale und sonstigen Gegenstände aus. Einiges davon kann bei einer Online-Auktion günstig erworben werden. Dann wird das Gebäude gründlich gereinigt. Ende Juni sei dann endgültig niemand mehr im Haus.
Die Immobilie wurde 1997 errichtet, dort war zunächst das Möbelhaus Ostermann ansässig. Es folgte der US-Einzelhandelskonzern Walmart. 2006 eröffnete Real auf der 5500 m² großen Fläche. Diese wird nun mehrere Monate lang umgebaut und dann an den neuen Supermarkt-Betreiber übergeben.
Das Unternehmen Kaufland, das bereits an der Breite Straße einen Markt betreibt, wird als Nachfolger immer wieder genannt. Weder bestätigt man dort die Übernahme, noch wird sie dementiert.
Richtig erschrocken ist auch Sabine Stock. Allerdings schockieren sie die leeren Regale, die langen Schlangen an den Kassen und das Chaos auf dem Parkplatz. „Ich dachte, die fahren mir mit den Einkaufswagen ins Auto.“ Sie selbst habe nur hin und wieder hier eingekauft, „wenn’s gerade auf dem Weg lag“. Sie ist auf der Suche nach laktosefreien Nahrungsmitteln. Ein paar Becher Joghurt liegen schon im Korb. Die 58-Jährige hofft, dass Kaufland demnächst den Real ersetzt. Gerüchte dieser Art sind in Umlauf. Immerhin gehöre das Gebäude seit zwei Jahren dem Konzern, sagt Marktleiter Deining.
Bis zuletzt gibt’s Schulhefte und Eierlikör
„Wir möchten Sie bitten, nach Möglichkeit mit Karte zu bezahlen.“ Immer wieder ist diese Durchsage zu hören. Die Schlangen an den Kassen werden dadurch nicht kürzer. 20 Minuten stehen Mutter und Tochter schon an – und haben noch zehn Kunden vor sich. Sobald ein Regal leer ist, entfernt das Personal die Preisschilder und entsorgt die Kartonverpackungen – routiniert und äußerlich gefasst. Wo Regale schon abgebaut sind, säubert ein Reinigungswagen die Bodenflächen.
Gegen Mittag gibt’s noch ein paar Schulhefte, abgepacktes Brot, Zwieback, Eierlikör und ein paar Tüten Katzenstreu. Auch Grillsoßen sind noch da. Und Konserven. Doch auch hier schleppen sie schon palettenweise Rotkohl in Gläsern und Erbsen in Dosen davon. „Alles muss raus“ steht schließlich groß auf den Rabattschildern. Und: „Die Zeit läuft“. Für den Real in Annen ist sie jetzt abgelaufen.