Witten/Bochum. Fünf ukrainische Flüchtlingskinder aus Witten waren zu Besuch auf einem Ponyhof. Die Pferde sollen ihnen helfen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Was sie alles schon gesehen und erlebt haben, dafür fehlen Polina, Albina, Vera, David und Sevin die Worte – erst recht in der noch so fremden Sprache Deutsch. Und danach fragt hier auch niemand. An diesem Vormittag auf dem Ponyhof von Michelle Bartel sollen die fünf ukrainischen Kinder nicht an den Krieg denken, nicht an die Raketen und Panzer, die sie und ihre Mütter schlussendlich bis nach Witten getrieben haben. Mithilfe der Tiere sollen sie abschalten und verarbeiten – und vielleicht auch neuen Mut fassen.
Seit Wochen oder Monaten leben die Kinder im Alter von zweieinhalb bis 14 Jahren mit ihren Müttern in der Flüchtlingsunterkunft an der Brauckstraße. „Wir haben uns überlegt, was wir für die Menschen, die zu uns kommen, tun können“, sagt Kirsten Schäfer vom Arbeiter-Samariter-Bund, die die Idee für das therapeutische Reiten hatte. Da sie selbst Pferde habe, wisse sie, was die Tiere bei Menschen bewirken könnten. „Pferde schaffen es immer, einen Zugang zur Seele zu finden“, sagt die 61-Jährige. Ganz ohne Worte.
Nähe zu den Pferden wirkt sich positiv auf die Seele aus
Deshalb geht es auch direkt auf Tuchfühlung mit den aus Kinderperspektive imposanten Tieren. Die Schwestern Albina (4) und Polina (8) sind schon zum zweiten Mal hier, stolz und mit einem Lächeln im Gesicht tragen sie zwei Putzkästen herbei – immer gefolgt von ihrer angespannt wirkenden Mutter. „Bürsten, streicheln oder frisieren – das beruhigt unheimlich“, sagt Therapeutin Michelle Bartel. Und sei auch sehr beliebt. Genauso wie das Einfetten der Hufe, das Bartel für die Kinder scherzhaft „Nagellack auftragen“ nennt.
Alleine die Kontaktaufnahme mit den Ponys wirke positiv auf Klein und Groß, sagt die 45-Jährige. Empathisch mit den Tieren umzugehen, Respekt zu zeigen, beim Reiten ihre Wärme zu spüren und das Gefühl des Getragenwerdens: „Das holt die Menschen ganz anders ab, als jeder Therapeut es könnte.“ Bei einem anderen Besuch auf dem Hof etwa habe eine Mutter 30 Minuten lang ein Pferd gestreichelt und dabei geweint. „Hinterher sagte sie dann: Was für ein schöner Tag!“, erzählt ASB-Geschäftsführerin Schäfer.
Projekt läuft zunächst für ein halbes Jahr
Zunächst für ein halbes Jahr können Kinder und ihre Eltern organisiert vom Wohlfahrtsverband einmal die Woche auf dem Ponyhof in Langendreer ihren ungewissen Alltag, ihre Sorgen und Ängste vergessen. So lange laufen die Fördermittel, die der ASB für das Projekt akquiriert hat. Auch danach soll es nach Möglichkeit weitergehen. „Denn es kommt unheimlich gut an“, resümiert Schäfer. Und man merke einfach schnell, dass es etwas bei den Menschen auslöse.
So wie bei der kleinen Sevin aus Odessa, gerade einmal zweieinhalb Jahre alt. Nach wenigen Minuten ist ihre anfängliche Zurückhaltung verflogen. Neben ihrer Mutter Rochia stehend muss sie sich fast strecken, um das braune Pony Tippex striegeln zu können. Ihre Freude mindert das nicht.
Flugzeug am Himmel trübt kurzzeitig die Stimmung
Als es nach dem Putzen und Satteln der Pferde Richtung Reitplatz geht, ist die Jüngste ganz vorne mit dabei – ohne ihre Mutter. Zu groß ist da schon die Anziehungskraft der behuften Vierbeiner. An der Hand von Kirsten Schäfer läuft sie fröhlich über den Platz. Dann fliegt ein Flugzeug durch den blauen Himmel. Niemand bemerkt es, nur das kleine Mädchen. Sie hält inne, rüttelt am Arm ihrer Begleiterin, zeigt in den Himmel. Die kann sie aber schnell beruhigen.
Streicheln, bürsten, reiten – während die Kinder schnell von den Eindrücken auf dem Ponyhof vereinnahmt sind, dauert es bei einer der beiden Mütter, die als Begleitung mit nach Langendreer gekommen sind, deutlich länger. Die 32-jährige Naste, Mutter der Schwestern Albina und Polina, wirkt die meiste Zeit, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders. Nur wenn sie ein Foto ihrer Kinder schießt, lächelt sie. Mehr für ihre Mädchen als für sich selbst, so scheint es. Die Familie stammt aus dem von Anfang an heftig umkämpften Charkiw im Nordosten des Landes.
Am Ende aber knacken die Ponys auch die junge Mutter. Da fordert Michelle Bartel alle dazu auf, sich in die Heuraufen zu setzen, aus denen die Pferde fressen. „Denn die Kaugeräusche der Tiere entspannen ungemein“, so die ausgebildete Physiotherapeutin. Nachdem sie eine Weile zugeschaut hat, setzt sich auch Naste. Eines der Pony beginnt, direkt neben ihr Heu aus dem Netz zu zupfen, stupst die Ukrainerin dabei mit den Nüstern an. Die tätschelt den Kopf des Tieres, lächelt – und wirkt zum allerersten Mal an diesem Tag entspannt.