Witten. Schräg oder innovativ? Ab Freitag gibt’s die 55. Auflage des Festivals „Tage für neue Kammermusik“. Was sich lohnt, verrät dieses Interview.

Auf 35 Uraufführungen können sich die Freunde zeitgenössischer Musik freuen, wenn am kommenden Freitag die 55. „Wittener Tage für neue Kammermusik“ ihre Pforten öffnen. Was die Besucher erwartet, erörtert Harry Vogt, der künstlerische Leiter des Festivals, in einem Gespräch.

Die neun Konzerte des 55. Festivals sind dicht bestückt mit Werken etablierter und weniger bekannter Komponisten in denkbar unterschiedlichen Besetzungen. Können sich die Zuhörer trotz des buntscheckigen Programms an einer thematischen Leitlinie orientieren?

Harry Vogt: Farbe und Abwechslung – was Namen, Alter, Machart oder Besetzungen betrifft – sollte ein solches Programm schon bieten. Bei den Kammermusiktagen gibt es auch diesmal kein Generalmotto oder -thema, über das sich alles definieren lässt. Doch gibt es Gemeinsamkeiten, Linien, die sich in den Programmen und in vielen Stücken wiederfinden. Am Ende, sobald die Musik erklingt, spielen sie im günstigsten Fall keine Rolle mehr. Mottos sind eher was für die Marketingabteilung als für die Musik.

Zentral ist diesmal eine Grundidee des Schwesternparks, der zu den schönsten Gartenanlagen des Ruhrgebiets zählt und der jetzt von zwölf Klangkünstlerinnen und Klangkünstler erkundet und bespielt wird. Das Große im Kleinen ist die Maxime dieses Parks, der auf wenigen Quadratmetern eine große Vielfalt, labyrinthisch verschlungene Wege und allerhand Überraschungen bietet.

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Nach der pandemischen Zäsur der Vorjahre kann das Publikum die Angebote wieder live vor Ort erleben. Was bedeutet das für die Stadt Witten und speziell deren Bürger?

Nachdem gleich zwei Jahrgänge des Festivals nicht in Präsenz liefen, wir aber die Programme immerhin komplett im Radio und im Netz realisieren konnten, sind wir heilfroh, wieder Musik vor Ort aufführen zu können. Ein großes Aufatmen, für alle, nicht nur für die Bevölkerung in Witten.

Zeitgenössische Kammermusik gehört nicht gerade zu den Mainstream-Hits unserer Tage. Trotzdem legen Sie Wert darauf, dass das Festival nicht nur als Tummelplatz für Insider gedacht sein, sondern auch die Einwohner ansprechen und einbeziehen soll. Wie weit kann sich dieser Wunsch erfüllen lassen?

Die Mischung macht‘s auch hier. Das Festival richtet sich nicht nur an Spezialisten, die von Nah und Fern anreisen, sondern auch an Interessierte in Witten, die offene Sinne, Augen und Ohren für Besonderes haben. Vor allem ein Projekt wie die „SchwesternParkMusik“ ist dazu geeignet. Denn da liegt die Möglichkeit der Klangkunst oder solcher Freiluftaktionen, wie ich sie seit über zwei Jahrzehnten regelmäßig in Witten durchführe: auf dem Hohenstein, an bzw. auf der Ruhr, in der Ruhrkegelbahn, auf dem Rathausturm, im Muttental oder am Hammerteich. Hier werden Schwellen überschritten oder überwunden, hier können nicht nur Zugereiste, sondern auch Einheimische ein Stück Heimat, scheinbar Vertrautes erstmals oder anders wahrnehmen. In diesem Fall ein Kleinod der Gartenbaukunst, das viele in Witten noch gar nicht kennen.

Foto: Bernd Böhmer Kammermusik Ausstellung im Märkischem Museum in Witten. Auf dem Bild Harry Vogt.
Foto: Bernd Böhmer Kammermusik Ausstellung im Märkischem Museum in Witten. Auf dem Bild Harry Vogt. © WAZ | Foto: Bernd Böhmer

Welchen Beitrag leistet die Stadt Witten, um diesen Anspruch erfüllen zu können?

Die Stadt Witten ist mit großem Engagement dabei. Sie hat erkannt, was sie an diesem Festival hat, das 1936, also vor fast 90 Jahren von dem Komponisten und Musiklehrer Robert Ruthenfranz gegründet wurde und das seit 1969 in Kooperation mit dem WDR internationales Ansehen gewonnen hat: Witten worldwide. Den Namen der Ruhrstadt, wo in den letzten 55 Jahren mehr als 1000 Werke uraufgeführt wurden, kennen viele Musikfreundinnen und Musikfreunde in aller Welt - von New York bis Tokyo - als Mekka der Moderne.

Kein Wunder, dass einige Komponisten der Stadt Witten sogar schon Werke gewidmet haben. Darunter Koryphäen wie György Kurtág oder Hans Abrahamsen. Und zwar aus purer Dankbarkeit, weil sie hier entscheidende Erfahrungen gemacht und singuläre Aufführungen erlebt haben. Und zwar genau hier, an der Ruhr, und nicht in den USA, nicht in Witten/South Dakota, der Kleinstadt gleichen Namens im Wilden Westen, die nur wenige Einwohner und vor allem kein Festival hat.

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Die Pandemie-Krise scheint sich abzuschwächen, die Bedrohungslage angesichts des Kriegs in der Ukraine schärft sich dagegen zu. Wirft die politische Situation Schatten auf das Festival?

Momentan wirft der Krieg auf alles einen übergroßen Schatten, er verändert unsere Sicht- und Hörweise, selbst wenn die Programme, die lange vorher entstanden sind, und die hier aufgeführten Werke damit direkt nichts zu tun haben. Doch die Ohnmacht und Unsicherheit angesichts dieser Aggression ist überall spürbar.