Witten. Seit genau 125 Jahren werden in Witten am Bodenborn 75 die Haare geschnitten. Der Urenkel macht manches anders als der Firmengründer - zum Glück.
Wenn die Wände am Bodenborn 75 reden könnten, was hätten sie nicht alles zu erzählen! Seit genau 125 Jahren werden dort im Salon Haare geschnitten. Schon im März 1896 hat Adolf Borgschulze an dieser Stelle sein Friseurgeschäft eröffnet. Noch immer ist der Salon im Familienbetrieb – inzwischen in der vierten Generation. Aber nicht alles, was der Firmengründer konnte, bietet jetzt auch Urenkel Thomas Martin seinen Kunden an. Zum Glück, darf man sagen...
Adolf Borgschulze zog den Wittenern nämlich auch die Zähne. „Er konnte das wohl besser als der ansässige Zahnarzt hier in Bommern“, erzählt Jutta Martin schmunzelnd, die mit ihrem Mann Thomas (59) den Salon seit den 90er-Jahren betreibt. Auch zur Behandlung mit Blutegeln und Schröpfköpfen kamen die Kunden damals gern in den Salon.
Firmengründer ließ sich in Witten nieder
Mit acht Goldtalern im Gepäck war Adolf Borgschulze damals von seinen Eltern in Soest losgezogen, um sein Handwerk zu lernen. Er sparte das Geld, das für Kost und Logis auf der Walz gedacht war. Als er seine Frau Emma Disse aus Bommern kennenlernte, wurde er in der Ruhrstadt heimisch und ließ von dem Gold das Haus am Bodenborn bauen. Das Paar wohnte mit seinen Kindern in einer Wohnung über dem Salon – eine Tradition, der alle seine Nachfolger im Betrieb treu geblieben sind.
Seine Frau Emma betrieb zunächst in einer Hälfte des Ladens ein Lebensmittelgeschäft. 1927 musste es einem Damensalon weichen. „Das war die Charleston-Zeit, als auch die Frauen plötzlich einen Friseur brauchten, weil sie die Haare kürzer trugen“, erklärt die 59-jährige Chefin. Und dann kamen auch schon bald die ersten Dauerwellen…
Erste medizinische Fußpflege in Witten
1967 wurde das Angebot wieder erweitert. Karl-Heinz Martin, Ehemann der Enkelin des Firmengründers, eröffnete die erste medizinische Fußpflege in Bommern. Das hatte ganz einfache Gründe. Das Geschäft ging schlecht zu der Zeit, die Männer ließen wachsen statt schneiden. „Statt alle vier Wochen kamen sie nur noch alle vier Monate“, erzählt Thomas Martin.
Waren das die schwersten Zeiten in der Firmengeschichte? Oder war es der Krieg, oder gar der Lockdown? „Ach was“, Jutta Martin winkt ab. „Auch im Krieg wurden die Haare gemacht, manchmal gegen ein Pfund Butter.“ Und bei einem Fliegerangriff sei eben im Keller weitergewickelt worden. „Aber der Bau der Ruhrbrücke Ende der der 90er, der hat uns beinah das Genick gebrochen“, sagt Thomas Martin. Der Umsatz brach plötzlich um die Hälfte ein. Denn die Kunden aus Witten hätten ja nur noch über große Umwege nach Bommern kommen können. „Und damals hatten wir auch noch viele aus Dortmund, aus meinem alten Salon. Auch die scheuten den Weg.“
Im Lockdown wurde der ganze Salon in Witten renoviert
Aber der Salon hat die Durststrecke überlebt. Und auch den Lockdown haben die Martins unbeschadet überstanden, obwohl die Hilfen bislang nur schleppend geflossen sind. „Wir haben die Zeit zum Renovieren genutzt“, sagt der Chef. Alles strahlt in neuem Glanz. Nur eine Wand im Herrensalon, die ist noch original so wie in den 50er-Jahren – einschließlich der alten Frisierstühle. „Die wollte uns schon so mancher abkaufen...“
Also: Alles ist bereit für die nächsten Jahre und die nächste Generation. Denn die steht schon bereit. Die beiden Töchter Sarah und Sandra haben auch Friseurin gelernt, Sarah will bald die Meisterschule besuchen. „Wir waren schon als Jugendliche hier im Salon. Ein anderer Beruf kam gar nicht in Frage“, sagt Sandra. Ihrem Vater war das nur recht. Das Friseurhandwerk sei zwar kein leichter Job. Aber er mache Freude. „Denn wir sind kreativ, mit Menschen in Kontakt und immer auch ein bisschen Psychologe.“
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Und die Zusammenarbeit zwischen den Generationen habe eigentlich immer gut funktioniert. „Jeder hat seine Technik, wir lernen alle voneinander“, sagt Mutter Jutta Martin. Aber hat den Nachwuchs nie die große weite Welt gelockt – Rom, Paris, New York? Die Töchter winken energisch ab: „Nur weil Witten keine Großstadt ist, heißt das ja nicht, dass wir hier keine Trends haben...“
Apropos: Was sind denn die neusten? „Grau färben ist der letzte Schrei, gerne mit einer Strähne in Pastell“, sagt die Chefin. Und die Dauerwelle komme auch wieder. Der Traum von den ewigen Locken ist halt seit 100 Jahren immer noch nicht wahr geworden.