Witten. Dieser Pfarrer ist anders – oder einfach nur er selbst. Ein Besuch bei David Raasch, der besser nach Kreuzberg als nach Witten zu passen scheint.
„Die Kerze brennt, ein kleines Licht, wir staunen und hören, fürchte dich nicht.“ Zwölf Erwachsene und sechs Jugendliche sitzen in den Stuhlreihen der evangelischen Kirche in Durchholz und singen diese Worte. Es ist ein schöner Morgen nach einem Abend voller Regen, der Himmel ist plötzlich wieder blau und weit und wenn man aus der Innenstadt kommt und die vielen Kurven nach Durchholz rauffährt und plötzlich vor dieser Kirche steht und die Glocken läuten hört, dann wird einem ganz warm ums Herz inmitten dieser weiten grünen Landschaft, und wenn man dann diese Zeilen singt, dann ist fast Weihnachten.
„Macht Euch bereit, fangt an, passt auf, was kommt.“
„Macht euch bereit, fangt an, passt auf, was kommt.“ Diese Worte von Pfarrer David Raasch (35) sind verkürzt seine frohe Botschaft an diesem Morgen. Wir sind extra wegen ihm da, weil wir eine Geschichte zu Weihnachten machen wollen, aber auch über diesen jungen, unorthodoxen Geistlichen. 1,99 Meter groß, klare kräftige Stimme, das braune Haar hinten zum Pferdeschwanz gebunden. Man könnte sich den Bochumer auch oder vielleicht sogar besser in Berlin-Kreuzberg vorstellen. Aufs Land scheint er nicht so recht zu passen. Aber Kirche ist überall.
„Macht Euch bereit“, sagt Johannes der Täufer.
Und plötzlich löst Raasch den Zopf, legt sich einen Schal um und brüllt: „Kehrt um, bewegt euch.“ Er schlüpft in die Rolle von Johannes dem Täufer. Der Mann liebt halt Rollenspiele. In der Kirche, manchmal auch im Wald. Fantasy-Spiele. Herr der Ringe. Schwertkämpfe. Nein, keine Sorge: Schwerter zu Pflugscharen. Der Herr Pfarrer ist ganz friedlich. Und trotzdem eindrucksvoll. Das Spielen ist für ihn „Urlaub von mir selbst“.
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.“
Pfarrer Raasch predigt mit dem Tablet, spricht aber auch ganz viel frei. Nicht nur von der Kanzel hinab, er läuft dabei gern herum. „Macht euch bereit, guckt nach, was ihr machen könnt, dass ihr sagt, jetzt bin ich bereit für Weihnachten.“ Ja, und wann weiß ich, dass ich bereit bin? David Raasch ist kein Pfarrer, der auf alles eine Antwort weiß. „Angela Merkel bereitet sich anders vor als unsere Presbyter und ich anders als Ihr Euch“, sagt er an diesem Morgen in Durchholz.
„Lasst zu, dass der Geist Euch bewegt, der auf Weihnachten wartet. Macht Euch bereit. jetzt kommt die Zeit, auf die ihr euch freut.“
Es ist ein anderer Morgen, diesmal in „Herbede Mitte“, wir sind mit dem Pfarrer zuhause verabredet. Das alte Pfarrhaus von 1892, nicht mehr in Bruchstein, aber irgendwie immer noch alt und gemütlich, auf halbem Weg zur Kirche oben auf dem Hügel. Der Pfarrer hat seinen Arbeitsplatz sozusagen immer fest im Blick. Wir treffen uns im „Wartezimmer“. Regal voller Spiele und Fantasy-Bücher, dort selbst gebaute Bögen, da ein paar Feuertöpfe. Man sieht auch hier: Raasch liebt Holz und das Rollenspiel, den Wald, die Natur, das Draußensein mit anderen.
Er nennt sich selbst einen „Nerd“, einen komischen Kauz, der es aber durchaus mit anderen gut kann. Nach dem Motto: Kauz versteht Kauz. Anders sein zu dürfen – oder besser gesagt: du selbst sein –, das war sogar ein Motiv für ihn, neben der Vielseitigkeit des Berufs, Pfarrer zu werden. „Hier ist der Ort, wo man sein kann wie man will“, sagt er. Tatsächlich hier, hier im kleinen Herbede? Doch, ja, seit 2015 ist er da. Sein Lebensmotto könnte aus einer Predigt sein: „Sei so, wie du bist.“
Er versucht dann auch gar nicht erst, Ordnung vorzutäuschen, wo eben erst das Familienfrühstück stattgefunden hat, wo sich der Schreibtisch im Arbeitszimmer unter Papieren und Büchern biegt, wo Legosteine und Teddybären das Wohnzimmer bevölkern, keine Frage, hier wird gelebt. Raasch wohnt mit seiner Frau Jessica und den beiden Kindern in dem Haus. Die Kita, wo er gleich Talitha abholt, ebenso wie die Kirche nur einen Steinwurf entfernt. Talitha? „Wir haben sie nach den Sternen benannt“, sagt der evangelische Theologe.
Wittener Pfarrer lebt mitten in der Gemeinde, ist aber nicht überall dabei
Er lebt mitten in der Gemeinde, muss aber nicht überall sein, jedenfalls nicht auf jedem Geburtstag. Lieber kommt er, wenn man ihn ruft. „Der Pfarrer ist nicht mehr für alles da“, sagt Raasch.
Er plädiert dafür, in Zeiten des Umbruchs, in der der Kirche immer mehr Pfarrstellen und Schäflein zugleich abhanden kommen, „klassische Strukturen“ aufzubrechen, über Kirchturmgrenzen hinwegzudenken, Ehrenamtliche zu stärken, mehr auf mehr Schultern zu verteilen. Aber wenn es hart auf hart kommt, ist er da und für Taufen, Beerdigungen und Hochzeiten ja sowieso. „Die Gemeinde hat die gleichen Rechte wie die Familie.“ Ein Anruf wegen eines Sterbefalls an Heiligabend? „Dann bin ich weg.“
Sonst feiert Pfarrer Rasch mit seiner Familie ganz normal wie jeder andere Weihnachten, jenseits der Gottesdienste, mit zwei wunderbaren, engelsgleichen Kindern und einer Krippe, die eines Tages plötzlich vor der Tür stand. Worauf er sich am meisten freue? „Auf das Quatschen auf dem Weg“, sagt David Raasch. Er meint das Gespräch etwa mit seiner Frau, vielleicht nach dem Gottesdienst, was sie schön fanden, was nicht, was sie berührt hat.
Beim Gottesdienst in Durchholz singen die 18 Besucher an diesem Morgen das letzte Lied.
„Mache dich auf und werde Licht. Denn dein Licht kommt.“
Die Glocken läuten. Der Himmel über Durchholz ist immer noch blau an diesem Morgen. Bewegt steigt der Reporter in sein Auto und fährt zurück in die Innenstadt. Er hat ihn schon gefunden, diesen magischen Moment zu Weihnachten. In einer kleinen Kirche mit einem ganz großen Pfarrer.