Witten. Andreas Müller (65) geht in Pension. Im Interview zieht er eine Bilanz über seine Arbeit als Verkehrsplaner bei der Stadt Witten.
Vom 1. Mai 1990 bis zu seinem Abschied vor wenigen Tagen war Andreas Müller (65) der federführende Verkehrsplaner der Stadt Witten. Ungezählte Male hat ihn diese Zeitung zitiert. Müller stand im Fokus der Öffentlichkeit – und häufig auch der Kritik. Da alle Bürger Verkehrsteilnehmer sind, egal ob als Fußgänger, Autofahrer, ÖPNV-Nutzer oder Radfahrer, hat jeder seine Meinung zur Verkehrsplanung. Lokalredakteur Johannes Kopps sprach mit Andreas Müller über die „Spuren“, die er in der Stadt hinterlässt. Und über einen Zukunftsplan.
Manche Leute glauben, dass Sie nur Radwege geplant haben . . .
Müller. Das täuscht. Man hat mich vor allem als Experte für den ÖPNV geholt. Damals gab es zwei spektakuläre Projekte. Die alten Schienen waren hinüber. Es gab die Diskussion, etwas anderes aus der Straßenbahn zu machen. Sie sollte als U-Bahn unter die Bahnhofstraße verlegt werden. Die U 35 sollte von Bochum am Kemnader See vorbei und durch die Wittener Universitätsstraße bis zum Kornmarkt geführt werden. Ein Gutachten hatte schon ergeben, dass das nicht wirtschaftlich ist. Man hatte mich in der Hoffnung geholt, dass ich Argumente finde, warum es sich doch rechnen könnte.
Und, haben Sie die geliefert?
Diese Argumente gibt es nicht. Das wäre für Witten viel zu teuer geworden und fürs Bus- und Bahnnetz insgesamt schädlich gewesen. Und das alles, nur um das Gefühl zu haben, wir sind eine Großstadt und haben eine U-Bahn! Das ist so, wie wenn Papa jetzt einen großen Daimler fährt und der Rest der Familie zu Fuß laufen muss. Die beste Verbindung von Witten nach Bochum ist immer noch die Eisenbahn. Die Uni Bochum und Witten waren auch damals schon durch Busse verbunden. Die Leute, die da pro Stunde mitfuhren, hätten alle in eine halbe U-Bahn reingepasst.
Und das zweite Projekt?
Das wäre noch ein viel größeres Desaster geworden. Als Alternative zur U-Bahn sollte die H-Bahn von der Uni Dortmund durch unsere Bahnhofstraße bis zur Uni Bochum verlängert werden. Der H-Bahn-Betreiber hatte schon eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Ich hatte vorher selbst ein Handbuch für solche Studien geschrieben. Ich habe dann mal mit dem Gutachter gesprochen. Das Gutachten ist nie veröffentlicht worden, es wurde schamvoll aus dem Verkehr gezogen.
Sie sind passionierter Radfahrer und haben nie einen Autoführerschein gemacht. Deshalb sind Sie oft belächelt worden. Passt das zusammen, wenn man Straßen und Kreuzungen für Autofahrer plant?
Verkehrsplanung ist eine technische Fachdisziplin, die lernt man nicht in der Fahrschule. Ich kann mich gut in Autofahrer hineindenken. Außerdem hatte ich ja bei der Stadt immer auch autofahrende Kollegen, denen ich die Pläne vorgestellt habe. Auch das Ordnungsamt und die Polizei sind an solchen Planungen immer beteiligt, da war ich nur einer von vielen.
Hat sich die Situation für die Radfahrer denn in den letzten 28 Jahren überhaupt verbessert? Im Fahrradklimatest dümpelt Witten seit Jahren bei einer Vier minus herum.
Objektiv hat sich die Situation verbessert. Wir haben heute 50 Kilometer Radstreifen an Straßen – zum Beispiel am Bodenborn, an der Universitätsstraße in Heven und an der Wittener Straße in Herbede. Und noch einmal 50 Kilometer, wo der Radweg getrennt geführt wird, wie beim Rheinischen Esel und beim Ruhrtalradweg. Die Maßstäbe haben sich verschoben, die Leute sind heute kritischer und anspruchsvoller. Als ich in Witten anfing, war mein Rad das einzige, das vor dem Hauptbahnhof stand. Dezernent Dr. Otto sagte damals im Verkehrsausschuss: In Witten fährt keiner mit dem Rad. Und keiner hat ihm widersprochen.
Aber bei der Rad-Planung wurden doch auch richtige Böcke geschossen. Auf der Husemannstraße wurde ein Zwei-Richtungs-Radweg auf dem Bürgersteig angelegt und kurz danach wieder aufgehoben.
Ich war damals gerade eine halbe Stunde auf der Arbeit und fragte: Wer hat denn den Mist gemacht? Das muss sofort umgebaut werden! Ich brachte damals eine Untersuchung der Berliner Polizei mit. Die hatten 5000 Radunfälle untersucht. Quintessenz: Auf der Fahrbahn mitzufahren ist einfach sicherer. Der Autofahrer nimmt den Radfahrer besser wahr. Die Situation an den Ein- und Ausfahrten und den Einmündungen ist sonst viel zu gefährlich. Wenige Jahre später wurden auch die Richtlinien geändert. Um es richtig zu machen, hätte man die Husemannstraße eigentlich mit viel Geld noch einmal komplett umbauen müssen.
Die Kreuzung am Marien-Hospital gilt als Ihr Kind und ist in den Augen vieler ein kompletter Flop . . .
Das war die schwierigste Kreuzung in der ganzen Stadt. Sie ist durch den Umbau in jedem Fall viel sicherer für alle Verkehrsteilnehmer geworden. An dem schmalen Bussteig hatte es zuvor einen Toten gegeben. Ich hatte mehrere Vorgaben bekommen und habe die Kreuzung auch nicht ganz zu Ende geplant. Ich hätte dort keine Extra-Spur für Busse gemacht. Die Busse wären ohne diese genauso schnell, weil es dort kaum Pkw-Linksabbiegerverkehr gibt.
Zwei Fehler gehen auf meine Kappe: die Rampe an der Ecke, die zum „Felgenkiller“ wurde, und der zu kleine Wendekreis vor dem Krankenhaus. Beides wurde korrigiert. Der Kernvorwurf bis heute ist aber, dass es viel zu lange Staus gibt. Alle haben damals geglaubt, dass die neuen „hochintelligenten“ Ampeln den Stau wegrechnen könnten. Und wer weiter daran glauben will, macht für den Stau den Planer verantwortlich. Ich habe damals alles herausgeholt, was ich herausholen durfte. Der Stau ist aber heute noch genauso lang wie zuvor. Das liegt an den drei Ein- und Ausfahrten des Marien-Hospitals – Tiefgarage, Vorfahrt und Notfallaufnahme.
Was ist dran an der Idee, dass Sie als Pensionär „Fahrradbürgermeister von Witten“ werden möchten?
Ich würde mich gerne als ehrenamtlicher Lobbyist weiter für den Radverkehr in Witten einsetzen und mich bei konkreten Anlässen einmischen. Damit würde ich sozusagen meinen bisherigen Beruf zum Hobby machen. Das ist aber nur sinnvoll, wenn die Fraktionen im Rat grundsätzlich damit einverstanden sind. Da strecke ich gerade meine Fühler aus.
>> Verkehrsentwicklungsplan
Der gebürtige Dresdener Andreas Müller (Jg. 1952) zog mit seinen Eltern kurz vor dem Mauerbau in den Westen. Er studierte Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin. Dort war der Diplom-Ingenieur auch zehn Jahre in der Forschung sowie in der Beratung im Bereich Verkehrsplanung tätig. 1990 fing er als Verkehrsplaner bei der Stadt Witten an.
Wittens Verkehrsentwicklungsplan trägt auch seine Handschrift. Er zeigt die großen Linien für die Entwicklung der Hauptverkehrsstraßen auf. „Viel Zukunftsweisendes“ habe man umgesetzt, so Müller, wie den Bau mehrerer Kreisverkehre, die Radler runter vom Gehweg zu holen und den Umbau von Annenstraße oder Ruhrstraße.