Witten. . Gerd Sauer besucht Bewohner im Haus am Voß’schen Garten. Das Ehrenamt ist Teil seines Lebens, das nach einem schweren Unfall neu begann.
Sie sitzen im Stuhlkreis und blicken vor sich hin oder auf den einzigen Mann in der Runde: Gerd Sauer (75) ist an diesem Tag der Hahn im Korb. Der Pfarrer, der einst in der Evangelischen Gemeinde Herbede predigte, erzählt nun Märchen. Alle 14 Tage besucht er das Haus am Voß’schen Garten, um Menschen mit Demenz etwas von Aschenputtel oder dem tapferen Schneiderlein vorzutragen.
Noch vor 30 Jahren hätte er sich nicht vorstellen können, solch ein Ehrenamt zu übernehmen. Doch ein schwerer Unfall vor 18 Jahren hat sein Leben auf den Kopf gestellt. Damals sei er „dem Tod von der Schippe gesprungen“, sagt Sauer.
Er hatte als Fußgänger die Wittener Straße überqueren wollen, als ein Auto ihn überfuhr. „Ich war unaufmerksam“, nimmt Sauer alle Schuld auf sich. Einige Wochen lag er im Koma, mit Brüchen und Gehirnblutung. Alle dachten: „Gesund wird der nie wieder.“ Doch Sauer hatte Glück. „Ich habe mich geistig zurückgemeldet.“ Nur erinnern kann er sich an den Moment des Unfalls überhaupt nicht. Deshalb macht es ihm nichts aus, dass er oft an der Stelle vorbeikommt, weil er in der Nähe wohnt.
Zwar war lange Zeit ein Stock sein stetiger Begleiter, aber den braucht er jetzt dank erfolgreicher physiotherapeutischer Behandlung nicht mehr. „Ich fühle mich so fit, dass ich auch gelegentlich im Diakonissenhaus oder in der Johanniskirche predige.“
Er ist außerdem ehrenamtlich als Seelsorger in beiden Häusern der Boecker-Stiftung unterwegs und arbeitet beim ambulanten Hospizdienst mit. Nur den Stress und den Leistungsdruck, unter dem er als Gemeindepfarrer stand, den hat er hinter sich gelassen. „Ich lebe intensiver.“ Und er ist dankbar, noch so viel erleben zu dürfen. Zum Beispiel, wie es gerade wieder Frühling wird. Oder jene Nachmittage im Haus am Voß’schen Garten.
Die Gebrüder Grimm mag Sauer am liebsten
Die Leidenschaft für Märchen hat Gerd Sauer in den letzten Jahren entdeckt. Die Gebrüder Grimm haben es ihm besonders angetan. Diesmal hat er sich für „Der Arme und der Reiche“ entschieden. Doch bevor der Pfarrer das Märchen erzählt, singt er mit den Bewohnerinnen und einigen ehrenamtlichen Helferinnen Frühlingslieder.
Dann werden Bilder herumgereicht, von Märchen, die Sauer schon einmal vorgetragen hat – „damit die Frauen sich erinnern“. Erst danach wird aus Gerd Sauer der Märchenerzähler vom Dienst: Wie vor dem Gottesdienst den Talar, streift er nun einen bunten Poncho über und setzt einen Filzhut auf. Er läutet ein Glöckchen, es wird ganz still, dann sagt er die drei magischen Worte: „Es war einmal“.
Geschichtenerzähler mit großen Gesten
Mit großen Gesten erzählt Sauer die Geschichte von dem Armen, der einem Wanderer (Gott) Unterschlupf gewährt und ein schönes Haus dafür bekommt, und dem Reichen, der den Wanderer zuvor abgewiesen hat. Ab und zu blickt er auf den Zettel in seiner Hand. „Ich bin zu faul, alles auswendig zu lernen.“ Nach dem letzten Satz „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ fragt eine aufmerksame Bewohnerin: „Wo wohnen sie denn jetzt?“ Sauer lächelt, sie hat ja recht.
Dann singen sie noch ein paar Lieder, die meisten sehr textsicher, und wollen gar nicht mehr aufhören mit „Kein schöner Land“. Und dann ist die Märchenstunde vorbei. „Wichtig ist eine feste Struktur“, sagt Gerd Sauer. Er kennt das ja von der Liturgie im Gottesdienst. Hatte er anfangs gezweifelt, weil er sich mit dem Thema Demenz nie befasst hatte, weiß er längst: „Wenn ein Ablauf vertraut ist, fühlen sich die alten Menschen wohl.“
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- 80 Bewohner leben in den acht Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz im Haus am Voß’schen Garten, das zur Boecker-Stiftung gehört.
- Leiterin Julia Adolf freut sich über Gerd Sauers Engagement: „Märchen wecken bei unseren Bewohnern Erinnerungen.“ Außerdem rege die Märchenstunde die Kommunikation an.