WitTen. . Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter: Warum sich die Wittener Mehmet Çolak, Mürvet Kesmen und Hasan Günesli im Integrationsrat engagieren.

In Witten leben – laut städtischer Statistikstelle – fast 11 400 Ausländer, außerdem über 9700 Menschen mit Migrationshintergrund, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Der Integrationsrat, die politische Vertretung der Migranten in der Stadt, möchte diesen Frauen und Männern eine Stimme geben, macht sich für kulturelle Vielfalt und ein friedliches Zusammenleben stark. Im Dezember wurde Mehmet Çolak in der Integrationsratssitzung zum ersten Vorsitzenden gewählt. Er ist Nachfolger von Alexandra Konstantinopoulos. Ein Gespräch mit dem 52-Jährigen und seinen Stellvertretern, Mürvet Kesmen (47) und Hasan Günesli (56), über ihr Leben in Witten und ihre Wünsche.

Herr Çolak, Sie sind gebürtiger Türke, leben aber schon sehr lange in Witten.
Ja, seit 1969. Ich stamme aus der Stadt Malatya in Südostanatolien. Mein Vater ging nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Er war in Witten auch bei Lohmann und Stolterfoht als Maschinenzerspannungsmechaniker beschäftigt. Ich habe mein Abitur auf dem Schiller-Gymnasium gemacht und bin Finanzfachwirt geworden. Ich bin in Witten freiberuflich mit einem Investoren- und Betreuungsbüro für mittelständische Unternehmen tätig. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder.

Herr Günesli, wie sind Sie nach Witten gekommen?
Ich stamme aus der Osttürkei und bin 1979 meinen Eltern nach Witten gefolgt. Mein Vater ging schon zehn Jahre früher nach Deutschland. Er hat in der Glasfabrik am Crengeldanz gearbeitet. Ich habe in der Türkei bis zu meinem 17. Lebensjahr in einem Dorf bei meiner Großmutter gelebt und meine Eltern nur in den Ferien gesehen. Eigentlich wollte ich nur als Tourist nach Deutschland gehen...

„Ich habe schon seit 1997 einen deutschen Pass“

Sie sind aber geblieben und haben studiert.
Günesli: Ich bin Maschinenbauingenieur, jedoch seit über einem halben Jahr arbeitslos. Mein früherer Wittener Arbeitgeber hat 45 Leute entlassen, ich war dabei. Ich war 13 Jahre selbstständig, habe ein Reisebüro in der Stadt gehabt und auch gedolmetscht. Außerdem: Ich bin Vater von zwei Kindern, 27 und 25 Jahre alt, SPD-Mitglied – und habe schon seit 1997 einen deutschen Pass.

Frau Kesmen, Sie sind in Gelsenkirchen-Buer aufgewachsen.
Genau. Mein Vater war schon Bergmann in der Türkei und hat auch in Deutschland als Bergmann gearbeitet. Meine Familie stammt vom Schwarzen Meer, aus einem Dorf, das zur Stadt Bartın gehört. Ich wurde in Deutschland geboren. Nach Witten bin ich 1995 mit meinem Mann gezogen. Wir haben vier Kinder. Ich bin Bauingenieurin, habe in Bochum studiert. Seit anderthalb Jahren arbeitet ich als Dozentin und unterrichte Flüchtlinge und Zuwanderer in der deutschen Sprache.

Warum engagieren Sie sich zusätzlich im Integrationsrat?
Ich bin dort schon seit 2014. Ich wollte in der Stadt ehrenamtlich etwas tun.

„Wir sind integriert worden!“

Es wird immer wieder gefordert, Menschen aus dem Ausland müssten sich in Deutschland integrieren. Gibt es da Nachholbedarf?
Hasan Günesli: Unsere Eltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Meine Kinder leben hier als die dritte Generation. Wir sind integriert worden!

Mürvet Kesmen: Mein 13-jähriger Sohn hat mich gefragt: ,Bin ich ein Ausländer?’ ,Nein, das bist Du nicht’, sagte ich ihm. Er sieht nicht aus wie ein Türke, man merkt es nicht an seiner Sprache, seinem Verhalten, auch nicht an seinen Klamotten. Warum werden Menschen, die in der dritten Generation hier leben, von der Gesellschaft noch als Ausländer angesehen? Menschen, die aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kommen, müssen integriert werden. Aber um uns, die wir seit vielen Jahrzehnten hier leben, dürfte es nicht mehr gehen.

Sie wohnen in Stockum, Frau Kesmen. Fühlen Sie sich als Familie dort wohl?
Stockum ist ein Dorf, alle Menschen sind dort sehr nett! Ich fühle mich von der Nachbarschaft angenommen. Meine Kinder sind in deutschen Vereinen. Wir haben schon viel von der deutschen Kultur übernommen. Allein die Pünktlichkeit! (lacht) Und dass Kinder um 19 Uhr ins Bett gehen. Das gibt es in der Türkei nicht. Aber ich habe an der Tankstelle auch erlebt, dass jemand zu mir sagte: ,Wir sind hier nicht in Anatolien.’ Ich stand ihm wohl im Weg, wollte aber nur wenden.

Mehrsprachige Bücher für Kitas gekauft

Herr Çolak, Sie setzen sich dafür ein, dass Kinder mit ausländischen Wurzeln nicht nur Deutsch lernen, sondern auch die Muttersprache pflegen und zwar bereits in der Kita.
Ja, dies geschieht zum Beispiel in der Awo-Kita Schellingstraße. Ich habe das angeregt. Wir haben mehrsprachige Bücher aus unserem Budget des Integrationsrates gekauft, die von der Stadtbücherei verwaltet werden. Aus diesen Büchern wird den Kitakindern vorgelesen, das machen dort Mütter. Sie lesen Geschichten auf Arabisch, Russisch, Italienisch und Türkisch vor. Die Bücher – das Sortiment wird noch erweitert – können sich auch andere Kitas in der Stadtbücherei ausleihen. Man weiß: Wenn die Muttersprache gepflegt wird, lernen die Kinder auch besser Deutsch. Und: Die Anerkennung der eigenen Sprache ist auch wichtig, damit die Kinder sich angenommen fühlen. Nur sprechen heute leider schon viele türkischen Eltern kein Hochtürkisch mehr.

Ihre Wünsche für die kommenden Jahre?
Çolak: Ich würde mich freuen, wenn es 2020 auch mehrsprachige Grund- und weiterführende Schulen in Witten geben würde. Dafür setze ich mich ein.

Herr Günesli, Sie bedauern, dass junge Türkinnen oft Probleme haben, Ausbildungsplätze zu finden.
Ich stelle fest, dass junge Frauen mit Kopftüchern es sehr schwer haben, Ausbildungsplätze zu finden. Solche Mädchen bekommen oft nicht einmal einen Praktikumsplatz. Sie werden dann von türkischen Firmen genommen. Kinder sind unsere Zukunft. Jugendliche zum Beispiel, die keine Ausbildungsstelle haben, könnten etwa auch über Sportvereine von der Straße geholt werden.

„Wo seid Ihr vier Jahre lang gewesen?“

Mürvet Kesmen: Es müssen auch Eltern wachgerüttelt werden. Wenn ich von Landsleuten höre, das Kind geht auf die Hauptschule, hat nur Vieren und Fünfen, da stelle ich Eltern die Frage: ,Wo seid Ihr vier Jahre lang gewesen?’ Es gibt viele türkische Familien, die sich kümmern. Aber Mütter, die die deutsche Sprache nicht so gut beherrschen, können Kinder nicht unterstützen. Sie sind dann leider auf sich selbst gestellt.

>>> DER INTEGRATIONSRAT

Den Integrationsrat gibt es in Witten seit 2010. Er ist Nachfolger des Ausländerbeirates. Dem Integrationsrat gehören 18 von ausländischen Mitbürgern gewählte Migranten-Vertreter an, außerdem neun Ratsmitglieder.

Das Gremium darf sich mit allen Angelegenheiten der Gemeinde befassen. Es kann auf Missstände im Verwaltungsbereich aufmerksam machen, Verbesserungsvorschläge für Verfahren anregen und Beratungsangebote in seinen Räumen in der Mannesmannstraße 6 (neben dem Werkstadt-Treff) anbieten.

Der Integrationsrat kann auch Anregungen in den Rat geben. Entscheidungsbefugnisse im Hinblick auf den städtischen Haushalt oder Verwaltungsabläufe hat er nicht.