witten. . Christus hätte keine Lust auf interne Machtkämpfe, meint der Spitzenpolitiker und Atheist. Er war zu Gast beim Stadtgottesdienst und an der Uni.
Er habe schon immer davon geträumt, eine Kirche zu füllen, bemerkte Gregor Gysi im Gespräch mit Matthias Kleiböhmer, Theologe der Creativen Kirche, die den Stadtgottesdienst traditionell ausrichtet. Das ist dem Politikstar der Partei „Die Linke“ am Sonntagabend (4. 2.) gelungen. Der Saalbau war bis auf den letzten Platz besetzt. Rund hundert Besucher, die teils auf den Treppen saßen, wurden ins Foyer geschickt, wo sie den Gottesdienst am Bildschirm verfolgen konnten.
„Warum braucht unsere Gesellschaft Gott?“ Dieses Thema bildete den Rahmen für den Stadtgottesdienst „Himmelwärts“. Dass ausgerechnet ein bekennender Atheist wie Gysi hierauf eine Antwort liefern sollte, gehört zu den rhetorischen Witzen, um die Kleiböhmer nicht verlegen ist. Und doch, es war erhellend. „Eine gottlose Gesellschaft wäre eine Katastrophe“, sagte Gysi. Der 70-Jährige zeigte sich überraschend bibelfest und meinte, obschon konfessionslos und nicht gläubig: „Ich bin ja nicht gegen Religion.“
Gysi gab sich so launig und sprachspritzig, wie man es von ihm gewohnt ist. Kleiböhmers biografische Vorlage, er sei ja gelernter Facharbeiter für Rinderzucht, verwandelte der Berliner wie einen Elfmeter ohne Torwart in den linken oberen Winkel: „Als Rinderzüchter kann ich gut mit Hornochsen umgehen.“ Gysi, der Vollprofi.
Mitunter war sein Atheismus schwierig nachzuvollziehen. Für Papst Franziskus fand er lobende Worte und wunderte sich rückblickend, wie oft er den Pontifex gegenüber konservativen Erzkatholiken schon verteidigen musste. Auch gestand er, dass Atheisten alles Mögliche wissenschaftlich deuten könnten, für die Entstehung der Welt aber keine Erklärung hätten. Außerdem sei das Neue Testament „genial“. Fast schien es, als könne der Protestant Kleiböhmer den Gottlosen zum Kirchenbeitritt bekehren, als Gysi sagte: „Wenn man an Gott glaubt, kann man ihn nur fühlen.“
Linken-Politiker hätte gerne täglich drei Wünsche frei
Auf die Frage, in welcher Partei Jesus wohl wäre, antwortete Gysi: „In keiner. Er hätte keine Lust auf diese internen Machtkämpfe. Aber inhaltlich wäre er ein Linker.“ Klar, was denn sonst? Der Saalbau, also die Kirche, war voll, und Wahlkampf ist immer. Außerdem weiß der rhetorisch ungemein gewiefte Spitzenpolitiker, dass viele glauben, ihm sei argumentativ nur schwer beizukommen.
Nach erwartbaren Attacken auf deutsche Rüstungsexporte, Banken, Großkonzerne, Erdogan und Trump sowie einer erstaunlichen Würdigung des Kapitalismus für seine kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen, schob Gysi dann in der Nachspielzeit noch einen Elfer ins Netz. „Wenn ich drei Wünsche hätte: keine Kriege mehr, kein Hunger und Elend, jeden Tag drei Wünsche.“ Seine jüngst erschienene Autobiographie trägt den Titel: „Ein Leben ist zu wenig.“
Der Unterhaltungswert dieses Mannes ist enorm, und das weiß er auch. Zum Schluss wartete er noch mit Anekdötchen auf. Als Kind habe er Weihnachtslieder gesungen – zusammen mit seiner ebenfalls nicht gläubigen Familie. „‘Stille Nacht, heilige Nacht‘ ist eines der schönsten Lieder. Nur nicht in den Sommerferien.“
Gysi erklärt die Aktualität von Karl Marx
Bereits am Sonntagmittag hatte Gregor Gysi an der Universität Witten/Herdecke einen Vortrag zum Thema „Warum heute noch Marx lesen“ gehalten. Im Saalbau und im Vorfeld des Stadtgottesdienstes gegenüber der WAZ bekräftigte er einige Thesen. So sagte er: „Es bildet und man lernt Geschichte. Es wird Zeit, dieser Person endlich gerecht zu werden.“
Gysi kritisierte die ideologische Verbohrtheit der Deutschen, die Franzosen seien da anders in ihrem Umgang mit polarisierenden Figuren wie Napoleon Bonaparte und Jeanne d’Arc. Es sei Zeit, dass Konservative Clara Zetkin würdigten, aber auch, dass Linke eine Bismarckstraße fordern. Außerdem müsse endlich eine Universität den Namen von Karl Marx tragen, „meinetwegen auch mit kritischem Lehrstuhl“. Auch müsse der Missbrauch seines Namens aufhören. „Es kann nicht sein, dass alles, was schief gelaufen ist, ihm angelastet wird.“