Witten. In die Abgründe einer Wittener Familie blickten am Mittwoch die Zuschauer eines Vergewaltigungsprozesses vor dem Amtsgericht. Über 40 Jahre nach dem vermutlich ersten Missbrauch hatte sich dort ein 60-Jähriger unter anderem wegen Vergewaltigung seiner behinderten Schwester zu verantworten.

Über 40 Jahre nach dem vermutlich ersten Missbrauch an seiner geistig und körperlich behinderten Schwester A. (58) wurde ein 60-Jähriger wegen Vergewaltigung „in Tateinheit mit Beischlaf unter Verwandten” nun zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Angeklagt war aber nur eine einzige Tat – aus dem Jahr 2008.

Von einer „tragischen Familienchronik” war die Rede. Doch selbst diese Beschreibung wirkt verharmlosend. Mehrere der fünf Kinder waren behindert, der Vater brachte sich um, als seine Tochter A. 14 Jahre alt war, die Mutter litt später an einer Leberzirrhose. Ein Sohn haute ab, ein anderer, der letztes Jahr den Fall ins Rollen brachte, wurde spielsüchtig. Nur dem ältesten Sohn, jenem, der nun wegen Vergewaltigung vor Gericht stand, schien etwas zu gelingen. Er arbeitete über 40 Jahre auf einem Friedhof.

Er drohte mit Einweisung ins Heim oder Prügel

Seine behinderte Schwester, die er erstmals missbraucht haben soll, als sie 17 oder 18 war, soll er immer wieder eingeschüchtert haben. Er drohte mit Einweisung ins Heim oder Prügel, wenn sie ihn verraten sollte. Als die Mutter die Übergriffe bemerkte, weihte sie eine Tante ein. Die, inzwischen 83 Jahre alt, sagte vor Gericht: „Weinend gestand sie mir, ihr ältester Sohn habe seine Schwester zweimal vergewaltigt.” Doch keiner schlug Alarm. Die Tante wurde zum Schweigen verdonnert.

Die Übergriffe setzten sich im Erwachsenenalter fort. Ende der achtziger Jahre sei A. zu ihr gekommen, erzählte die Tante, und habe ihr berichtet, der Bruder suche sie zwei-, dreimal die Woche auf und vergewaltige sie. Selbst als A. heiratete, nahm das Martyrium kein Ende. Der Angeklagte soll sich sogar im Keller an ihr vergangen haben, während der 40 Jahre ältere Ehemann oben im Bett lag. Die Tante suchte mit A. den Bruder bei seiner Arbeit auf, um ihn zur Rede zu stellen: „Ich habe gefleht und gebetet, mach doch endlich Schluss.” Er habe nur geantwortet: „Was meinste wohl, wem sie glauben?”

Weil sie ja doof sei, habe ihr niemand geglaubt, berichtete das Opfer vor Gericht. Die Tat, für die ihr ältester Bruder nun ins Gefängnis muss und die sich am 1. Dezember 2008 ereignete, versuchte er als Verführung hinzustellen. Bei einem Besuch in ihrer Wohnung habe sie ihren Pulli hochgezogen und ihm die Hose geöffnet. Es endete mit Geschlechtsverkehr auf der großen Couch.

Eine Gutachterin sprach von passiver Duldung

Das Opfer versicherte, sich gewehrt zu haben. Bei dem Telefonat, in dem ihr Bruder seinen Besuch ankündigte, habe sie extra noch gefragt, ob er auch nicht wieder mit ihr rummachen wolle. Das habe er verneint. Er wolle mit ihr nur über den Bruder sprechen, der in einem Heim lebt. Als der Angeklagte in der Wohnung erschien, soll er sie schon im Flur begrapscht haben.

Dass sich das Opfer nicht besonders gewehrt hat – eine Gutachterin sprach von passiver Duldung –, war für das Gericht kein Beweis für ein Einverständnis. Richter Bernd Grewer: „Es war zwar nicht die klassische gewaltsame Vergewaltigung, aber es war Gewalt.” Die Frau, ein „Angstopfer”, habe sich in einer Zwangslage befunden, die sexuellen Handlungen seien gegen ihren Willen geschehen. Seit ihrem 17. oder 18. Lebensjahr habe der Angeklagte sie immer wieder als sein Sexualobjekt benutzt.

Der Angeklagte, der sich gestern entschuldigte, hatte das wohl anders empfunden. Nach der Tat am 1. Dezember umarmte er das Opfer und sagte: „Meine kleine Schwester.”