Witten. . Beratungsstellen schlagen Alarm: Die Zahl der Süchtigen steigt immer weiter. Besonders gefährlich seien übrigens Sportwetten, so die Experten.
- Beratungsstellen schlagen Alarm: Zahl der Süchtigen steigt immer weiter
- Automatenspieler rutschen oft in die Schuldenfalle und in die Kriminalität
- Sportwetten seien besonders gefährlich, warnen die Berater
Es fing ganz harmlos an. Hier ein paar Euro beim Feierabend-Bier in den Automaten gesteckt, dann ein bisschen in der Spielhalle gezockt. Doch mit der Zeit geriet es außer Kontrolle. Ganze Tage verbrachte Peter* (*Name geändert) vor den blinkenden Automaten, verlor Tausende – und ging doch am nächsten Tag wieder hin. Immer in der Hoffnung auf den großen Gewinn, auf den Kick. Seine Frau Naomi bekam davon jahrelang nichts mit. „Manchmal fragte ich ihn zwar, warum wir nur so wenig Geld haben, wo er so viel arbeitet, aber mein Mann hatte immer eine Erklärung für alles“, erzählt die 50-Jährige.
Sohn legt Geld unters Kissen
Als er ihr dann gesteht, dass er 40 000 Euro beim Glücksspiel verloren hat, fiel sie aus allen Wolken – und glaubte seinen Beschwichtigungen. Doch es kam noch schlimmer: „Mein Mann fing an, Geld zu klauen. Er stahl Geld, welches ich zurückgelegt hatte aus meinem Kleiderschrank und raubte meinen Schmuck. Auch unser neues Navi, und die neue Playstation meines Sohnes brachte er ins Leihhaus. Mein Sohn schläft seither mit seinem Portemonnaie unter dem Kissen, weil er dem Vater, den er abgöttisch liebt, nicht mehr vertraut.“
Infotag der Wittener Innenstadt
Peter ist nur einer von vielen: 16,4 Millionen Euro betrug der Spielerverlust im vergangenen Jahr – allein in Witten. Das heißt: 16,4 Millionen Euro landeten in den 600 Automaten in den 17 Spielhallen und 75 Gastronomien in der Stadt. Und die Zahlen steigen: „1998 lagen wir noch bei fünf Millionen Euro, 2010 waren es schon über neun Millionen“, klagt Ulrike Schweitzer, Suchttherapeutin beim Blauen Kreuz Hagen.
In dieser Woche machte sie zusammen mit ihren Kollegen und Mitarbeitern der Wittener Sucht- und Drogenhilfe der Diakonie Mark-Ruhr in der Innenstadt auf das wachsende Problem aufmerksam: Mit einem Einkaufskorb, der mit Waren im Wert von 100 Euro gefüllt war, standen die Berater am Berliner Platz. Passanten sollten schätzen, wie viele solcher Wagen 2016 in Witten verspielt worden sind. Schweitzer: „Es sind 164 000 – das ahnt kaum jemand.“
„Unter der Sucht leidet die ganze Familie“
Mit dem Einkaufswagen-Beispiel sollte sichtbar gemacht werden, welche Werte bei einem Süchtigen verloren gehen. „Das betrifft ja nicht nur den Spieler, sondern darunter leidet die ganze Familie.“ Denn das ist der typische Ablauf so einer Sucht-Karriere: Erst fehlt Geld für die laufenden Ausgaben, dann leihen sich die Spieler Geld von Familie und Bekannten, nehmen Kredite auf, rutschen in die Verschuldung, werden schlimmstenfalls kriminell. Die Sorgen sind existenziell: „Es droht der Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung, letztlich sogar der Familie“, so Heike Malz, Leiterin der Suchthilfe der Diakonie Mark-Ruhr.
Trotz der Schulden: Nur ums Geld scheint es den Spielern irgendwann gar nicht mehr zu gehen: „Für einen Süchtigen geht es um die Geräusche, das Licht, die Reklame. Das alles fixt an und beruhigt“, so die Expertin. Sie habe einen Klienten, der nach einer erfolgreichen Therapie noch immer keine Pommes holen könne. „Weil der Spielautomat an der Wand ihn zu nervös macht.“
Zwischen 200 und 300 Spielsüchtige gibt es in Witte
Zwischen 200 und 300 Spielsüchtige gibt es in Witten, so die Schätzungen der Beratungsstellen. Tendenz steigend. Mehr Männer als Frauen, meist älter als 20, quer durch alle Schichten.
Oft bleibe es nicht bei der Spielsucht: „Häufig kommen Drogen dazu, die Spieler putschen sich etwa mit Amphetaminen auf, um länger spielen oder nach einer durchspielten Nacht noch arbeiten zu können“, so Heike Malz. Von diesen Beispielen kennt die Sozialarbeiterin viele. „Aber ich kenne keinen, wirklich keinen, der mit Glücksspiel Millionär geworden wäre.“
„Sportwetten sind in besonderem Maße gefährlich“
Nicht nur Spielhallen, auch die Anbieter von Sportwetten sind den Suchtberatern ein Dorn im Auge. Die Umsätze in diesem Bereich seien in den letzten Jahren explodiert. Waren es im Jahr 2000 „nur“ eine halbe Milliarde Euro, lagen die Zahlen im letzten Jahr schon bei 6,13 Milliarden Euro bundesweit.
„Und das sind nur die, die die 5 Prozent Wettsteuer bezahlen – der Schwarzmarkt ist da nicht dabei“, so Jürgen Trümper, Geschäftsführer beim Arbeitskreis Spielsucht. Früher sei die Sportwette ein Nischenprodukt gewesen. „Heute versinken ganze Stadtviertel in einer Mischung aus Wettbüros, Sportbistros und Spielhallen.“
Sportwetten-Geschäft ist ein rechtloser Raum
Dabei sei das Sportwetten-Geschäft noch immer ein rechtloser Raum. Seit das Glücksspielmonopol des Bundes im Jahr 2010 vom Europäischen Gerichtshof gekippt worden ist, befänden sich die Sportwetten im „schwammigen Zustand der Duldung“. Da noch immer keine Konzessionen vergeben worden seien – die Länder ringen seit 2012 um Verfahren und Zuständigkeiten – würden alle Sportwetten-Büros auf deutschem Boden „formalrechtlich illegal betrieben“, so Trümper. Erst in der letzten Woche hatte Schleswig-Holstein einen neuen Versuch, die Konzessions-Vergabe auf den Weg zu bringen, gekippt: Das Land will eine stärkere Liberalisierung des Wett-Marktes.
„Die Spieler glauben, das habe mit Glück nichts zu tun“
Dabei ist der „im besonderen Maße gefährlich“, so der Suchtexperte. Anders als beim Automatenspiel werde dabei nämlich auf das vermeintliche Fachwissen spekuliert – und die Wetten entsprechend beworben. „Die Spieler glauben, das habe mit Glück nichts zu tun.“ Ein Irrtum, den sie meist teuer bezahlen müssten.
Was Trümper besonders Sorgen macht: Das Klientel der Wetter macht inzwischen ein Viertel der Spielsüchtigen aus – und es ist besonders jung: oft unter 20. Viele gehen gar nicht in ein Büro, verzocken per Handy-Klick ihr Hab und Gut. „Und die Seiten sind so gebaut, dass man von dort gleich auch ins Online-Casino kommt.“
„Wir haben hier bislang ein Totalversagen“
Trümper fordert von der Politik daher, endlich klare Verhältnisse zu schaffen. „Wir haben hier bislang ein Totalversagen, das ist Realsatire.“ Erst mit einer geregelten Konzessionsvergabe könnte auch eine geregelte Kontrolle der Ordnungsbehörden einsetzen. Die aber sei nötig: „Bis jetzt beschränkt sich der Spielerschutz darauf, dass der Wett-Automat fest in der Wand verankert ist.“
>>>WORAN MAN DIE SUCHT ERKENNT
Woran erkennt man, dass man selbst oder der Partner spielsüchtig ist? Die Suchtberaterinnen nennt folgende Kriterien:
Der Süchtige vernachlässigt wichtige Bereiche wie Arbeit und Familie. Er wird unzuverlässig, versäumt Termine, leidet unter Stimmungsschwankungen. Er leiht sich Geld, verkauft persönliche Gegenstände, bittet um Vorschuss, und ist pleite, obwohl er nichts gekauft hat. Er wird unruhig, wenn er nicht spielen kann.
Was können Angehörige tun? Kein Geld leihen, keine Schulden begleichen, offen über die Sucht sprechen.
Und das sollten Süchtige tun: Hilfsangebote nutzen. Eine erste Anlaufstelle ist die Suchthilfe der Diakonie Mark-Ruhr , Tel. 02302/ 91484 -31. Die Fachstelle Sucht beim Blauen Kreuz Hagen erreicht man unter Tel. 02331 / 933745-0. Online gibt es auf hagen.blaues-kreuz.de auch einen Selbsttest für Glücksspieler. Den Arbeitskreis gegen Spielsucht erreicht man unter Tel. 02303 / 89669.