Witten. . 1993 gründeten Julia Kast und Lisa Hieb an der Oberkrone ein Tanztheater für russlanddeutsche Kinder. Mittlerweile trainieren sie 100 Talente.

  • Theatermacherinnen kamen als Russlanddeutsche nach Witten
  • In ihren Berufen konnten sie nicht Fuß fassen. Also machten sie sich in Heven selbstständig
  • Heute trainieren sie auch Kinder aus den Nachbarstädten. Die Wartelisten sind lang

„Da die Gruppen aller Altersklassen stets überfüllt sind, läuft die Anmeldung nur im September und nur nach telefonischer Absprache. Wir bitten um Ihr Verständnis!“ Diese Sätze stehen auf der Homepage des Tanztheaters „Abrakadabra“, das Julia Kast und Lisa Hieb vor 24 Jahre an der Oberkrone gegründet haben. Niemals hätten sie damals gedacht, dass ihr Projekt so lange Bestand haben würde.

Einst wurde Abrakadabra für russlanddeutsche Kinder gegründet – das war 1993, die Zeit, als etliche Russlanddeutsche nach Deutschland kamen und fern der Heimat auf etliche Probleme stießen. Julia Kast (50) ist ausgebildete Theaterregisseurin, Natalia Cravo Ferreira (43) Choreographin, Irene Frank (44) Musikpädagogin. Lisa Hieb (42) konnte vor der Ausreise ihrer Eltern das Studium zur Musikpädagogin nicht beenden.

„Das Problem hier war die Sprache. Wir konnten Deutsch gut verstehen, aber schlecht sprechen“, erinnert sich Julia Kast. Und darum eben nicht in ihren Berufen weiterarbeiten. „In Russland hat Kultur aber auch einen anderen Stellenwert“, gibt Elisabeth Hieb zu bedenken.

Auch Jungs tanzen bei Abrakadabra mit.
Auch Jungs tanzen bei Abrakadabra mit.

Ihr Traum war ein Kulturhaus nach russischem Vorbild, „wo Kurse umsonst sind, man malen, turnen, singen, tanzen kann. Auf hohem Niveau. In Russland würde niemals ein Laie Kindern Tanzunterricht geben“, sagt Natalia.

Genau so ein Kulturhaus haben sie mittlerweile. Es ist die entwidmete Ev. Kirche Oberkrone (Auferstehungskirche). Seit 2008 betreibt ein Förderverein (u.a. die Abrakadabra-Gründerinnen) das Gebäude als Veranstaltungszentrum. Julia Kast und Elisabeth Hieb sind mittlerweile beim Kirchenkreis Hattingen-Witten angestellt. Julia ist aber auch Hausmeisterin und gibt Gymnastikkurse für Seniorinnen in den Räumen. „Quatschgymnastik“ nennt sie das. „Solange die Damen ihre Übungen machen, dürfen sie dabei quatschen. Das kommt gut an!“

An das Gebäude kamen sie nach einer gelungenen Aufführung beim Oberkrone-Sommerfest, als ein Pfarrer Julia Kast ansprach. Bis dahin hatten sie in Wohnzimmern oder in der Kirche St. Franziskus geübt. Mit den neuen Proberäumen bot sich die große Chance – und ein „Zuhause“ für die Kinder: 100 Kinder machen seitdem in vier Gruppen bei „Abrakadabra“ mit, viele kommen sogar aus den Nachbarstädten.

Texte werden in „gutes Deutsch“ übersetzt

Die Hauptarbeit wird bis heute ehrenamtlich gemacht: Künstlerin Dorothee Grothues gibt Zeichenkurse und sorgt für die Bühnenbilder. Bernd Hecker (81) übersetzt die selbst geschriebenen Stücke in „gutes Deutsch“. Irene Franks Mann Alexander sorgt für die Requisiten. „Wir wollen ein Zauberschwert. Dann geht er in den Baumarkt, überlegt und baut uns das!“ Etliche Mütter nehmen an Nähkursen im Veranstaltungszentrum teil, um die Kostüme zu schneidern. „Ich sage immer, du bist selbst dafür verantwortlich wie dein Kind glitzert. Drei Pailletten reichen dabei nicht“, schmunzelt Julia Kast.

Szene aus „Der Glücksvogel“, zu sehen ab Freitag.
Szene aus „Der Glücksvogel“, zu sehen ab Freitag. © Anne Kast

Irina Frank gibt den Kindern Gesangsunterricht, sie ist aber auch die Organisatorin, die den Überblick behält. „Julia und ich sind voller wilder, verrückter Fantasien, aber dann wird es schnell chaotisch“, erzählt Lisa. Seit Irene den Überblick bei einer Produktion behält und mit Natalia eine gelernte Choreographin mit viel technischem Know-How hilft, seien die Stücke professioneller geworden.

Ihre „Stadtteilarbeit“ ist den Frauen weiterhin wichtig. „Die Kinder haben sich in 24 Jahren total verändert.“ Die kleinen Russlanddeutschen musste man stärken, „damit die sich trauen, überhaupt den Mund aufzumachen“. Schlaue Kinder wurden mangels Sprachkenntnissen auf Hauptschulen geschickt. „Heute haben wir Gymnasiasten. Und die aktuelle Generation muss man eher bremsen.“ Die Integrationsarbeit habe sich eher in eine soziale Arbeit gewandelt.

Was auffällt: Bei Abrakadabra machen auch allerhand Jungs mit – die in Ballettkursen doch Mangelware sind. „Viele unserer Jungs machen beides. Sie spielen Fußball und Tanzen“, sagt Julia Kast. Aber: „Die Jungs werden schon privilegiert behandelt, damit sie dabeibleiben.“ Und bewundert. „Da ist ein Handballer dabei, der kann aus dem Stand zwei Meter hoch springen“, sagt Natalia mit ihrem unverkennbar russischem Akzent. „Einfach ein Hammer-Hopser!“

>> Neues Stück „Mission Glücksvogel“ läuft am Freitag

  • Viele Russlanddeutsche, die nach Witten kamen, ließen sich in Heven-Ost nieder. Der Grund: Die Aussiedler wurden in der mittlerweile abgerissenen Oberkronenschule untergebracht. Sie zogen dann ins nähere Umfeld.


  • Das neue Stück des Tanztheaters nennt sich „Mission Glücksvogel“ und ist am Freitag, 9. Juni, um 19 Uhr im Saalbau zu sehen. Auch dieses Stück haben Julia Kast und Elisabeth Hieb selbst geschrieben. Darin macht sich der Junge Viktor auf die Suche nach dem Glück. Karten gibt es für 10 Euro an der Abendkasse.

  • Lisa Hieb: „Uns ist und war es immer wichtig, dass nicht nur die Eltern zu den Aufführungen kommen. Die Kinder können richtig was und dürfen das auch zeigen.“