. Schüler berichten, was Nazi-Schergen der Rüdinghauser Familie Neugarten antaten. Arno Reising erinnert an seinen Vater, der 1936 verhaftet wurde.

  • Elf neue Stolpersteine erinnern vor fünf Häusern an jüdische und politisch verfolgte Wittener
  • Besonders ergreifend: die Schilderungen einer ehemaligen Nachbarin
  • Arno Reising kämpfte für eine Erinnerung an seinen Vater Erich, der 1936 von der Gestapo verhaftet wurde

61 000 Stolpersteine in vielen Ländern Europas erinnern an die Verbrechen des Nazi-Regimes, 90 davon liegen nun in Witten. Vor fünf Wittener Häuser verlegte der Künstler Gunter Demnig am Montag elf Messingplatten, im Beisein von bis zu hundert Interessierten, die an die gedachten, die hier einst wohnten.

Das ist die Familie Neugarten, die an der Brunebecker Straße 53 lebte. Am Christopherus-Hof Im Wullen 75 erinnert ein Stein an Ludwig Fels, registriert und stigmatisiert als Homosexueller. In der Steinstraße 12 wird an Erich Reising gedacht, in der Körnerstraße 34 an Familie Rosenbaum, an der Berliner Straße 28 an das Ehepaar Wilzig.

Verlegung im Akkord

Für die einzelnen Schicksale hat Stolperstein-Verleger Gunter Demnig keine Zeit. Der Mann in dem verschlissenen Jeanshemd, mit Knieschützer und breitkrempigem Hut, hat drei Arbeiter bei sich. Er selbst hebt eine Gehwegplatte ab, schachtet Erde aus, setzt die Betonsteine mit den glänzenden Messingplatten ein und einige Naturquader drumherum. 95 Prozent der Arbeiten mache er selbst, sagt Demnig, als kurz Gelegenheit ist, ihn zu sprechen. Kaum ist er fertig (und pflastern kann er wahrlich schnell), fährt das Quartett weiter. Sein Publikum – Schüler, Mitarbeiter des Stadtarchivs, Gäste – hetzen hintendrein. Würdevoll ist das nur bedingt.

Dabei ist es eine ganz besondere Stimmung, wenn zehn Viertklässler der Rüdinghauser Grundschule vor dem Mehrfamilienhaus an der Brunebecker Straße ein Lied für Familie Neugarten singen. Tom, Anna und Helena, Elftklässler der Holzkamp-Gesamtschule, stellen die Lebensläufe von Louis, Rosa, Ilse und Rolf Neugarten vor, die ein Lebensmittel und Textilwaren-Geschäft in Rüdinghausen betrieben.

Ingrid Waßmuth, geb. Küppersbusch (rechts).
Ingrid Waßmuth, geb. Küppersbusch (rechts). © Jürgen Theobald (theo)

Auch die 85-jährige Ingrid Waßmuth, geb. Küppersbusch, ist gekommen. Als Siebenjährige erlebte sie in der Reichspogromnacht mit, wie NS-Schergen das Geschäft und die Wohnung plünderten, während die Familie sich auf dem Dachboden versteckte. Später rannte Louis Neugarten zum nächsten Telefon in der Bäckerei Küppersbusch, die Ingrids Eltern betrieben. „Der hat ganz arglos gedacht: Bei uns ist eingebrochen worden“, erinnert sie sich an den Anruf bei der Polizei. „Der kam nicht drauf, dass er verfolgt wurde, weil er Jude sei.“

1940 mussten die Neugartens nach Köln ziehen. Dort starb Rosa, Louis wurde später im KZ Treblinka ermordet. Ihre Kinder konnten nach England bzw Australien auswandern. Ingrid Waßmuth lebt seit 1954 in Menden. Gestern erkannte sie einige der älteren Rüdinghauser wieder.

Die Gattin denunzierte ihren Mann

Arno Reising und seine Frau wohnen der Verlegung im Eckhaus an der Steinstraße bei: für Arnos Vater Erich. Um den Stein hat der 85-jährige Ur-Wittener die Stadtarchivarin Martina Kliner-Fruck erst kürzlich gebeten, nachdem er in der Stadtgalerie eine Ausstellung gesehen hatte. Sein Vater sei im Widerstand gewesen und nirgendwo hört man über ihn etwas in Witten. „Das ist für mich selbst wichtig und auch für meine Kinder, dass die an ihn zurückdenken.“

Arno Reising
Arno Reising © Jürgen Theobald (theo)

Erich Reising notierte Nachrichten, die er mit seinem Volksempfänger über Radio Moskau hörte. Dass Deutschland einen Krieg heraufbeschwöre druckte er auf Flugblätter. Seine Frau – die Ehe lag schon lang im Argen – denunzierte ihn, die Gestapo verhaftete ihn. Sohn Arno kam daraufhin mit drei Jahren in ein Pflegeheim.

Der Vater schrieb die Verwandtschaft an, nach einem Jahr nahm ihn eine Tante zu sich. 1939 wurde der Vater aus dem KZ entlassen, den Sohn konnte er zunächst nicht zu sich holen, weil die Ehe geschieden worden war. Er heiratete erneut, Arno sah er aber nur kurze Zeit: Über die Kinderlandverschickung kam der Kleine erst für zwei Jahre nach Breslau, danach nach Pommern. Der Vater starb 1942, bei der Stiefmutter fühlte er sich nicht wohl. Sein ereignisreiches Leben dauerte noch lange an. Rückblickend sagt der 85-Jährige. „Erst die letzten 33 Jahre mit meiner Frau waren schön.“