witten. Wenn der NRW-Spitzenkandidat kommt, ist sogar bei der im Wittener Rat auf zwei Leute geschrumpften FDP die Bude voll. Lindner macht’s möglich.
- Großer Andrang bei Besuch des Parteivorsitzenden am Montagabend im Saalbau-Foyer
- NRW-Spitzenkandidat wirft Rot-Grün schwere Versäumnisse in den letzten sieben Jahren vor
- Gymnasien würden vernachlässigt, der Wirtschaft Knüppel zwischen die Beine geworfen
Obwohl ihre Ratsfraktion in Witten auf Zwei-Mann-Größe geschrumpft ist, hat die Landes-FDP an diesem Abend eine Menge Leute auf die Beine gebracht. Die einen sichern sich im Saalbau-Foyer schnell einen Stuhl, andere stehen locker an kleinen Tisch, ein kaltes Bier, eine rote Holunder-Limo in der Hand. Alle warten auf den Star des Abends, den FDP-Bundesvorsitzenden und NRW-Spitzenkandidaten Christian Lindner.
Der kommt wie angekündigt etwas später, aber dann doch recht pünktlich – trotz des „Staulandes NRW“. Er schleicht sich regelrecht in den Saal. Keine Klatsch-Marsch-Einlaufmusik, wie man es vielleicht vom erst 38 Jahre alten liberalen Überflieger hätte erwarten können. Ist das vielleicht die neue gelb-blaue Bescheidenheit?
„NRW liegt bei fast allem hinten“
Lindner nutzt das gut besetzte Auditorium mit Zuhörern zwischen 20 und 70 denn auch gleich als Steilvorlage für einen ersten Gag: „Wir sind es zwar gelegentlich gewöhnt, keine Sitze zu haben.“ Dass aber die Sitzplätze knapp würden, sei neu. Der blonde Berufspolitiker im braunen Anzug spricht laut und frei.
Er braucht „fünf Punkte“, um Rot-Grün zu zerlegen. NRW liege fast bei allem hinten, ob Staus, Schule, Arbeitsmarkt oder Sicherheit. Lauten Applaus bekommt er für den Satz: „Es geht um unser Land, das zu schade ist, um so schlecht regiert zu werden.“
Statt Arbeitslosengeld zu verlängern Jobs schaffen
Thema Wirtschaft. Was nütze es denn, wenn Martin Schulz, „der Mann mit den Zauberhänden“, die Agenda 2010 zurückabwickeln wolle und einem 50-Jährigen „fünf Monate mehr Stütze“ verspreche. Lindner: „Wie wäre es mal, dafür zu sorgen, dass es mehr Arbeitsplätze gibt?“
Rot-Grün habe seit 2010 nichts ausgelassen, um die Wirtschaft zu bremsen. „Hygieneampel, Klimaschutzgesetz, Tarifvergabegesetz und so weiter und so fort.“ Hier zähle nur die Ideologie vom grünen Tisch. Die FDP wolle ein Entfesselungsgesetz. „Der ganze Krempel von Remmel wird abgeräumt.“ Gemeint ist der grüne Umweltminister, der mit Schulministerin Sylvia Löhrmann und SPD-Innenminister Ralf Jäger besonders im Schussfeld steht.
Schulpolitik ein „grüner Scherbenhaufen“
Die Schulpolitik Löhrmanns sei wie „ein Blick in den Altglascontainer: ein grüner Scherbenhaufen“. Statt Kinder und Schulen individuell zu fördern, gebe es ideologische Gleichmacherei – zugunsten der Gesamtschulen, zulasten von Haupt-, Realschulen und Gymnasien. „Wer Gymnasien so diskriminiert und vernachlässigt, provoziert eine G 8/G 9-Debatte“. Schulgebäude seien in einem blamablen Zustand, die Schulpauschale seit Jahren nicht erhöht worden.
Bei all seinen Themen greift Lindern das Wort „Respekt“ auf, den Rot-Grün gegenüber seinen Bürgern vermissen lasse – ob es arbeitswillige Hartz-IV-Empfänger seien, deren Verdienst aber sofort voll auf ihren Satz angerechnet werde, Pendler und Handwerker, die ihre Lebenszeit im Stau verplemperten, oder Schüler, die sich den Gang zum Klo wegen der unzumutbaren Toiletten verkniffen. „Wie gehen wir mit Ihnen um?“ Wittens FDP-Chef Frank-Steffen Fröhlich kandidiert im Wahlkreis 106 (Witten, Herdecke) für den Landtag. Sein Herzensanliegen ist die Kultur.
Lindner fordert den Erhalt der Förderschulen. Es gebe Kinder, die mit ihrem Handicap nur dort unterrichtet werden könnten. Inklusion sei richtig in Schwerpunktschulen, die dafür ausgestattet seien. Von „Zwangsinkludierung“ spricht Vorredner Joachim Stamp, die Nummer 2 auf der Landesliste.
Gnadenlos rechnet Lindner mit der Straßenbaupolitik im Lande ab. NRW sei mit 388 000 Kilometern jährlich Stauland Nummer 1. Beim Antritt der Regierung seien 170 große Maßnahmen aus der Bundesplanung gestrichen worden. Jetzt, wo man investieren könne, „haben wir keine geplanten Projekte“.
Heftig kritisiert er auch die Breitbandpolitik. 50 Megabit seien das Ziel für 2018. „Das ist wie eine Rückkehr zu Rauchzeichen. Wir brauchen zehn- bis 20-mal mehr.“ Lindner schlägt vor, Post und Telekom zu verkaufen und den zweistelligen Milliardenerlös in den Ausbau des Internets zu investieren.
Zum Schluss geht’s um die innere Sicherheit. Während die Einbruchskriminalität gestiegen sei, habe Rot-Grün Beamte in Brennpunkte an Rhein und Ruhr abgezogen. Die Regierung fahre die Polizei „wie unsere Straßen auf Verschleiß“. Lindner fordert, den Beruf wieder für mittlere Schulabschlüsse zu öffnen. „Auch ein Realschüler kann ein guter Polizist werden.“ Was ebenfalls ein Zeichen des Respekts sei. Dann ist er bei Anis Amri angekommen.
„Der hätte aus dem Verkehr gezogen werden müssen“
Um ihn vor dem Anschlag in Berlin zu fassen, hätte es nicht schärfere Gesetze gebraucht, sagt Lindner. „Der hätte aus dem Verkehr gezogen werden müssen.“ Innenminister Jäger werfe er nicht einmal als Erstes Behördenversagen vor. Viel schlimmer sei dessen Behauptung, der Rechtsstaat sei an seine Grenze gegangen. „Das ist der eigentliche Skandal. Die Grenze wurde nicht einmal berührt.“
Gemeint ist die unterbliebene längere Abschiebehaft bzw. Ausweisung. Der Minister habe den Eindruck erweckt, der Staat sei wehrlos. Lindner: „Wer das tut, muss zurücktreten oder entlassen werden. Und da Frau Kraft ihn nicht entlässt, müssen wir Frau Kraft entlassen!“ Applaus.
Keine Frage, hier im Saalbau hat der FDP-Chef gepunktet. Doch er warnt trotz guter Umfragen: „Noch ist nichts gewonnen.“ Das war’s, noch ein paar Selfies mit ihm, dann spielt das Meinhard-Siegel-Trio die Schlussakkorde, lockeren Jazz. Gerade ist das Stück „The lost key“ zu hören, der „verlorene Schlüssel“. In Witten scheint die FDP den Schlüssel zum Erfolg heute schon wiedergefunden zu haben.