Auf den ersten Blick eine ganz normale Familie.

Die kleine Ivana (2) will spielen und lässt ihre Mutter Darija (36) kaum zu Wort kommen. Tochter Medina (9), die Mittlere, erzählt stolz von einer Zwei in Englisch und Murtija (14), die Älteste, hält sich etwas im Hintergrund. Normalität war für die Wittener lange Zeit ein Fremdwort. Die Mutter, die Töchter, sie gingen durch die Hölle. Der von ihnen getrennt lebende Vater tötete ihre kleine Schwester Medisa und hätte auch Murtija und Medina fast umgebracht – an jenem Pfingstsamstag 2005.

Vor gut zwei Jahren fand der Mordprozess vor dem Bochumer Schwurgericht statt. Der eifersüchtige Vater, der seiner geschiedenen Frau die Kinder nicht gönnte und sie bestrafen wollte, weil sie ihn verlassen hatte, bekam Lebenslänglich. Doch egal ob er zehn, 15 oder 20 Jahre sitzen muss – nichts kann das Unglück wettmachen, das der Mittfünfziger über seine Familie brachte. Angeblich wollte er mit seinen Kindern an diesem Pfingstsamstag in den Zoo gehen. Stattdessen lockte er sie in seine Wohnung an der Johannisstraße, wo er unzählige Male brutal auf sie einstach. Medisa wurde tödlich ins Herz getroffen, ihre Schwestern überlebten schwer verletzt. Hätte Murtija, die sich unter einem Wohnzimmertisch versteckte, nicht die Polizei alarmiert und Medina, die als Erste gefunden wurde, nicht gleich nach ihren Geschwistern gefragt – vielleicht würden auch die beiden heute nicht mehr leben. „Medisa war so lebenslustig, sie hatte sich schon auf die Schule gefreut”, erinnert sich Darija P. an ihre fünfjährige verstorbene Tochter. In der beigen Schrankwand im Wohnzimmer stehen Fotos: Medisa als Biene Maja verkleidet mit einer schwarzen Biene auf der Stirn, ein anderes Bild zeigt Medisa in einem Rahmen, der die Form eines Herzens hat. Nie wird die Mutter die letzten Worte ihrer Tochter vergessen, als sie von der Polizei gefunden wurde: „Mama, Mama!” Darija P. weint, als sie das erzählt. Schuldgefühle plagen sie, obwohl ihr Verstand ihr sagt, dass für dieses fürchterliche Verbrechen nur ein Einziger verantwortlich ist, nämlich ihr Ex-Mann. Es belastet sie, dass sie ihrer sterbenden Tochter nicht helfen konnte und an jenem Tag nicht auf Medisa gehört hatte, die eigentlich nicht zum Vater wollte. „Als hätte sie was gespürt.” Was bleibt, sind Erinnerungen – und die Träume. „Dadurch spüre ich sie, bin ich ihr ganz nah”, sagt die zierliche blonde Frau. Und geblieben sind ihr die anderen Töchter. Medina, die „immer voll gerne mit Medisa gespielt hat”, Murtija, die Älteste, die wie alle Mädchen in diesem Alter am liebsten „Freunde trifft” und natürlich Ivana, die Jüngste. Sie wurde vor zwei Jahren geboren, als der Prozess gerade vorbei war, Darijas Freund ist der Vater. Durch das Baby habe sie sich wieder etwas beruhigt, erzählt die Mutter. „Es ist aber nicht so, dass ich in ihr die Kleine sehe.” „Die Kleine” wird wohl immer die tote Medisa bleiben. Die Töchter sagen, dass es ihnen heute gut geht und sie nicht mehr so oft an die schrecklichen Ereignisse denken. Mit der Unbeschwertheit eines Kindes erklärt die blonde Medina: „Nur manchmal jucken noch meine Narben.” Die Familie sei noch in Behandlung – vor allem wegen der psycho-traumatischen Belastungen, erzählt Karl-Heinz Peters (82) vom Weißen Ring in Witten. Der Sprecher der Opferschutzorganisation hat dafür gesorgt, dass Medisa in ihrem Stadtteil beerdigt werden konnte. Der Pfarrer wollte erst nicht, weil das Kind nicht getauft war. Peters war es, der der Mutter Behördengänge abnahm und dafür kämpfte, dass zumindest einem der schwerverletzten Kinder eine Grundrente zugesprochen wurde. Murtija bekommt heute einen kleinen Betrag. Darija P. litt nach der Tat unter Albträumen, schreckte nachts hoch aus Angst, ihr Ex-Mann stehe vor der Tür. „Ich dachte, er will mich umbringen.” Noch heute fürchtet sie sich vor ihm, vor seiner Rache. Er hat inzwischen versucht, wieder Kontakt zu den Kindern zu bekommen und ihnen zum Geburtstag aus dem Gefängnis geschrieben – der Mörder ihrer Schwester, der die feste Absicht hatte, alle drei Kinder zu töten, und in einem Abschiedsbrief seiner Frau wünschte, sie möge vor Sehnsucht „krepieren”. Nach der Tat wollte Darija P. eigentlich nur noch weg aus Witten. Aber wohin? In die kroatische Heimat? „Die Kinder sind doch alle hier in Deutschland geboren”, sagt sie. Und egal, wo sie hingehe: Das, was passiert sei, werde sie immer begleiten. Außerdem möchte sie ihrer toten Tochter Medisa nahe sein. Wenn die 36-Jährige wieder diese Unruhe verspürt, geht sie ans Grab ihrer Kleinen.