Witten. Die Grundschule bietet jahrgangsübergreifenden Unterricht für Erst- und Zweitklässler sowie für Dritt- und Viertklässler an. Das gibt’s sonst nicht.
- Einzigartig in der Stadt: Annener Grundschule bietet jahrgangsübergreifenden Unterricht
- Erst- und Zweitklässler sowie jetzt auch Dritt- und Viertklässler lernen zusammen
- Zensuren und Arbeiten zur Leistungsabfrage gibt es trotzdem
Die Hüllbergschule in Annen geht neue Wege: Nicht nur ist sie die einzige Grundschule, die seit zehn Jahren jahrgangsübergreifenden Unterricht in den ersten und zweiten Klassen anbietet – seit diesem Schuljahr lernen auch die Kinder der dritten und vierten Klassen gemeinsam. „Damit möchten wir die Selbstständigkeit der Schüler unterstützen und das individuelle Lernen fördern“, sagt Rektorin Maria Nehm (58).
Sport spielt große Rolle an Gemeinschaftsgrundschule
Die Hüllbergschule ist auch „Bewegte Schule“. Das heißt, Sport spielt im Unterrichtsalltag eine große Rolle. Auch wurde sie jetzt als erste Wittener Grundschule als „Schule ohne Rassismus“ ausgezeichnet.
Besonders ist zudem die demokratische Struktur der städtischen Gemeinschaftsgrundschule: Es gibt einen Schülerrat und einen Schülersprecher. „Man muss den Kindern doch was zutrauen“, sagt Rektorin Nehm.
NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann, die in diesen Tagen mit dem Wunsch nach flexibleren Lernzeiten von sich reden macht, hätte ihre helle Freude an dieser Aussage. Doch darum geht es Maria Nehm nicht – ihr und den zehn Kolleginnen liegen vor allem die rund 220 Jungen und Mädchen am Herzen, die ihnen anvertraut sind: „Wir sind davon überzeugt, dass wir die Kinder durch diese Form des Unterrichts stärken.“
Donnerstagvormittag, 11 Uhr. Deutsch bei Lehrerin Annette Rösler (65) steht auf dem Stundenplan. Die Schüler sitzen konzentriert über ihren Aufgaben – Dritt- und Viertklässler bunt durcheinander. Jeder hat seinen eigenen Arbeitsplan vor sich liegen. Plötzlich bittet Tüyra das Mädchen gegenüber, mal auf ihren Zettel zu gucken. Der Drittklässlerin fällt gerade nicht ein, wie die Mehrzahl von Burg heißt. Gemeinsam mit der Älteren versucht sie, das Problem zu lösen. „Bei uns geht es nach dem Prinzip: Wenn du was nicht weißt, frage erst deinen Nachbarn, dann den Experten in der Klasse und zuletzt den Lehrer“, so Nehm.
Lehrer übernehmen Beobachterrolle
„Ja, die Kinder nehmen uns damit Arbeit ab“, bestätigt Anna Füten (30), die seit den Sommerferien neu an der Hüllbergschule und Konrektorin ist. „Wir haben jetzt eine komplett andere Rolle: vom Lehrenden hin zum Beobachter und Begleiter.“ Und was sie beobachten, sei durchweg positiv.
Konkurrenzdenken und Leistungsvergleiche etwa gebe es unter den Schülern kaum. „Ich bin aber weiter als du“, solche Sprüche spielten keine große Rolle mehr. Im Gegenteil: „Die spornen sich gegenseitig an“, beschreibt Annette Rösler, die regelrecht für die neue Arbeitsweise „brennt“, das Verhalten der Schüler. Füten erzählt von einer Zweitklässlerin, die mit offenen Schnürsenkeln herumlief, weil sie keine Schleife binden konnte. Das erledigte schließlich ein Mädchen aus der ersten Klasse für sie. „Vielleicht war ihr das etwas peinlich und gibt ihr so den Ansporn, es selbst zu versuchen“, hofft die Konrektorin. „Es ist etwas anderes, wenn ich als Lehrerin was gesagt hätte.“ Nicht zuletzt würden jene Kinder, die helfen, auch ihr eigenes Wissen festigen.
Arbeiten und Zensuren gibt es trotzdem
Auch wenn der jahrgangsübergreifende Unterricht an der Hüllberg-schule sehr individuell vonstatten geht, wenn die Kinder von- und miteinander lernen – Arbeiten und Zensuren muss es trotzdem geben. „Die Leistung wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgefragt“, erklärt Rektorin Maria Nehm das Konzept.
Und das geht so: Jedes Kind bekommt einen eigenen Arbeitsplan. Der enthält bei Begabteren viele Aufgaben, sonst eine abgespeckte Variante. Wie lange das Kind dafür braucht, entscheidet es selbst. Auf jeden Fall aber arbeitet es so lange an einer Sache, bis es diese weitgehend verstanden hat. Dann schreibt es eine Arbeit darüber – im normalen Unterricht. „Die anderen nehmen darauf Rücksicht.“
Wie sonst, sagt die Schulleiterin, könne man einen Entwicklungsunterschied von bis zu vier Jahren auffangen, wenn Kinder mit so unterschiedlichen Fähigkeiten in die erste Klasse kämen: Während einige kaum Deutsch sprächen, manche nur Zwei-Wort-Sätze oder Buchstaben nicht erkennen, würden andere ganze Geschichten erzählen und lesen können. „Wenn jetzt alle das Gleiche machen müssten, wären einige unter- und andere überfordert.“
Übrigens gibt es an der Hüllberg-schule, die eigentlich zweizügig ist, keine 1a und b. Die jahrgangsgemischten Klassen heißen E 1 bis 4 (E steht für Eingangsklasse) sowie W 1 bis 4 (Weiterführende Klasse). Und Hausaufgaben sind hier Lernzeiten.
„Das wird schon“
Natürlich, weiß Maria Nehm, die selbst drei Kinder und sechs Enkel hat, sei das alles für viele Eltern irritierend. Die Rektorin beruhigt jene, die wissen wollen, wo ihr Kind leistungsmäßig steht: „Wir kontrollieren regelmäßig die Hefte der Kinder. Da sieht man, ob sie etwas verstanden haben.“ Und wenn’s tatsächlich mal Probleme gibt, „dann holen wir die Eltern natürlich mit ins Boot“. Ansonsten rät sie ihnen zu mehr Gelassenheit: „Ich sage immer, das wird schon.“ Schließlich würden durch das jahrgangsübergreifende System an der Hüllbergschule die besten Voraussetzungen für die weiterführende Bildungsarbeit geschaffen: „Das Lernen lernen.“
Viertklässlerin Jülide jedenfalls macht der Unterricht mit den Jüngeren Spaß. Und Drittklässlerin Tüyra findet es gut, „dass der eine dem anderen helfen kann“. Sie kennt jetzt jedenfalls den Plural von Burg.